Im Namen der Abschreckung

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LITHUANIA-RUSSIA-UKRAINE-DEFENCE-NATOAPA/AFP/PETRAS MALUKAS
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Junge Freiwillige greifen zu den Waffen, die Nato schickt Soldaten: Litauen rüstet auf wie noch nie in seiner Geschichte. Besuch in einem Land, das der Krieg um die Ostukraine verändert hat.

Kristijonas Vizbaras ist ein Bürger ganz nach den Vorstellungen von Litauens Regierung. Der athletische junge Mann mit dem schütteren Haar hat in München seinen Doktor in Physik gemacht. Anders als die meisten Auswanderer kehrte er zurück und zog am Stadtrand von Vilnius ein Start-up für Lasertechnik hoch. Vor allem aber tauscht er nach Dienstschluss meist einmal pro Woche das weiße Hemd gegen die Camouflage-Uniform. Er robbt durch Litauens Wälder, schießt auf Zielscheiben oder lernt über Patriotismus und russische Propaganda. „Mehr als 5000 Euro habe ich schon in meine Ausrüstung investiert“, sagt er. Dabei wirkt der 32-Jährige eher nicht wie ein Militarist. Bis 2014 hatte er auch nie eine Waffe in der Hand. Dann kam „der Schock“, wie er es nennt: Litauens Nachbar Russland verleibte sich die Krim ein. „Plötzlich fühlten auch wir uns verwundbar. Unsere Armee ist winzig, geografisch sind wir exponiert.“ Vizbaras kreuzte also bei der Schützenunion auf, in der sich damals nur Pensionisten und Jugendliche tummelten. „Wir mussten uns die Kurse anfangs selbst organisieren.“

Ob sein Griff zur Waffe nicht eine Überreaktion war? „Umso stärker unsere Verteidigung ist, umso unwahrscheinlicher ist es, dass etwas passiert“, sagt Vizbaras. Die Aussicht auf einen langen Guerillakrieg gegen die Zivilbevölkerung würde den erforderlichen Einsatz für Angreifer erhöhen. Abschrecken. Im Verteidigungsministerium sehen sie das auch so.

Die Gefechte in der Ostukraine haben das an die russische Exklave Kaliningrad grenzende Litauen verändert. Heute wähnen 60 Prozent Moskau als Gefahr für die nationale Sicherheit. Der Staat verdoppelte 2016 die Verteidigungsausgaben im Vergleich zu 2013 auf 630Millionen US-Dollar. Bisher hatte Litauen keinen einzigen Panzer, nun wurden 88 Stück in Deutschland bestellt – das größte Rüstungsgeschäft in der Landesgeschichte. Junge Männer meldeten sich als Freiwillige für die Streitkräfte oder wie Vizbaras für die Schützenunion, die in zwei Jahren von 8000 auf 10.000 Mitglieder angewachsen ist. Einen russischen Fernsehsender stellten die litauischen Behörden wegen Propaganda ein, obwohl in Litauen mit sechs Prozent der Bevölkerung eine nur kleine russische Minderheit lebt. Anders als in Estland oder Lettland.

Das Verteidigungsministerium druckte zudem Kriegshandbücher für Zivilisten, in denen sich auch skurrile Sätze finden, wie etwa, dass Schüsse vor dem Fenster „nicht das Ende der Welt sind“. Die neue Broschüre unterweist im Widerstand. Illustriert ist sie mit russischen Panzern. Auch die Nato rüstet auf. 2017 entsendet sie ein multinationales Bataillon nach Litauen.


Attrappen.
Die Bilder zur Zeitenwende liefern Soldaten, die nördlich von Vilnius in einer Kleinstadt mit Sportstadion, Polizeistation und Wohngebäuden den Häuserkampf üben. Bloß: Dort lebt niemand. Eine Attrappe, ein Potemkinsches Dorf für Übungszwecke, „denn der nächste Krieg wird urban geführt“, wie ein Militär sagt. Und in Kaunas patrouillieren wegen der Ukraine-Krise nun junge Männer vor den Kasernen aus rotem Ziegelstein – auch die Wehrpflicht wurde wieder eingeführt.

Kaunas atmet blutige Geschichte. Einst war Litauens zweitgrößte Stadt eine Festung des zaristischen Russland, im Zweiten Weltkrieg verlief hier eine Front. Das Juozas-Vitkus-Pionierbataillon muss hier noch immer Hunderte Sprengsätze entschärfen. Ein Erbe des Zweiten Weltkriegs.

Die Ukraine-Krise „hat unser Leben verändert“, sagt Kommandant Ramūnas Jurskis – kantiges Gesicht, breite Schultern, kurze schwarze Haare. 200 seiner 500 Soldaten sind Rekruten, und statt Auslandsmissionen trainieren sie „die Verteidigung des Heimatlands“, etwa das Sprengen von Brücken falls der Feind naht. „Die Erinnerung an die Zeit der sowjetischen Besatzung ist hier sehr lebendig“, sagt Jurskis und schildert seine Familiengeschichte: „Meine Mutter und ihre Eltern wurden von den Sowjets nach Sibirien verschleppt.“ Den Einwand, dass Russland nicht die Sowjetunion sei, lässt er nicht gelten. „Ich sehe nicht viel Unterschied. Was in Russland passiert, macht mir Angst.“

Draußen peitscht der Wind, es regnet. Rekruten schultern in einer Übung ihre Kameraden. Unter den jungen Soldaten ist Ernestas. Wie Hunderttausende Litauer waren auch seine Eltern ausgewandert. Nach Schweden, wo die Löhne höher sind. Er war dort IT-Experte. „Es war langweilig“, sagt der 24-Jährige. Also kehrte er zurück, meldete sich wie ein guter Teil der Rekruten freiwillig. Angst vor Russland spielte aber keine Rolle. „Ich glaube nicht, dass wir bedroht werden.“

Auch Experten halten Litauens Warnungen vor dem Kreml für überzogen – zumal es im Gegensatz zu anderen postsowjetischen Republiken Nato-Mitglied ist. „Das erhöht den erforderlichen Einsatz, aber auch den möglichen Gewinn für Putin“, sagt Vaidotas Urbelis, politischer Direktor im Verteidigungsministerium. Ihn beunruhige die „scharfe Rhetorik“, dass Russland das Baltikum noch immer als nahes Ausland einordne. „Politisch inkorrekt formuliert bedeutet das: Sie sehen Litauen als ihr Territorium, als ihr Einflussgebiet.“ Zudem rüste Moskau die Region massiv auf und führe „offensive Übungen durch, mit Szenarien wie der Besetzung von Nato-Territorium, auch im Baltikum“. Die Gebietsgewinne würden dabei durch nukleare Abschreckung gesichert. Vor einem Monat verfrachtete Russland auch atomwaffenfähige Iskander-Raketen nach Kaliningrad. „Sie haben uns nicht informiert. Das ist kein Zeichen des guten Willens“, sagt ein Regierungsbeamter in Vilnius.


„Hysterisch“. Moskau nennt die Balten hysterisch und fühlt sich durch die Nato-Osterweiterung eingekreist, auch durch den Aufbau des Raketenabwehrschirms, der offiziell gegen den Iran gerichtet war, nun aber trotz der Aussöhnung mit Teheran weiter vorangetrieben wird. Auch die Nato-Aufrüstung der Ostflanke um vier Bataillone, 4000Soldaten, bezeichnet Russland als Provokation, wobei es selbst bis zu 300.000 Soldaten in seinem westlichen Militärbezirk stationiert haben soll.

„Alles, was wir tun, ist transparent und berechenbar“, sagt Jakob Søgård Larsen. Der groß gewachsene Däne ist Chef des neuen 40-köpfigen Nato-Stützpunkts (NFIU) der im Ernstfall als Andockstelle für die schnellen Nato-Eingreiftruppen dienen soll. Deutschland wird zudem in Litauen ein 1000 Soldaten starkes Bataillon anführen. Larsen: „Wenn jemand hier angreift, attackiert er damit auch Deutschland.“

Trotz allen nationalen Aufrüstens: Ohne die Nato-Beistandspflicht stünde Litauen ziemlich nackt da.

IN ZAHLEN

8000angestellte Militärangehörige hatte Litauen vor der Ukraine-Krise. Seit 2015 gilt die Wehrpflicht. Pro Jahr werden 3000 bis 4000 Rekruten für neun Monate eingezogen. Ein guter Teil meldet sich freiwillig.

60Stunden –
so lang würde Russland im Ernstfall brauchen, um das Baltikum zu besetzen, behauptet der US-Thinktank Rand Corporation nach Simulationen. Experten halten das Szenario aber ohnehin für sehr unwahrscheinlich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2016)

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