Nahost. Präsident Erdoğan stellt immer öfter den Vertrag von Lausanne infrage und sieht Teile des Iraks und Syriens als türkisches Gebiet. Die neue Präsidialrepublik rückt immer näher.
Wien/Ankara. Ein längst vergessenes historisches Relikt macht wieder die Runde. Es war noch während des türkischen Befreiungskrieges (1919–1923), als die Wortführer rund um den Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk die Grenzen der neuen Türkei festlegten. Neben der heute bestehenden Form sah das Manifest – die Misak-i Millî – Thrakien, Mossul, Aleppo, das georgische Batumi sowie mehrere griechische Inseln als Teil der neuen Republik. Mit dem Vertrag von Lausanne fielen diese Teile weg.
Lausanne hat der heutige Präsident Recep Tayyip Erdoğan schon öfter infrage gestellt. In seinen Reden kramt er die Misak-ı Millî hervor und zeichnet das Bild der größeren Türkei, den die Gründerväter im Sinn hatten. „Wir werden nicht Gefangene auf 780.000 Quadratkilometern sein“, so Erdoğan jüngst beim Staatsakt zum Tod Atatürks vor 78 Jahren. Krim, Kaukasus, Aleppo, Mossul mögen zwar über den Grenzen sein, so der Präsident weiter, „aber sie sind innerhalb der Grenzen unserer Herzen“. Bereits zuvor ließ sich Erdoğan zu Aussagen wie „Mossul gehört uns“, und „Die Grenzen dieses Landes haben wir nicht freiwillig akzeptiert“ verleiten. Der Kriegszustand in beiden Ländern begünstigt die großtürkischen Träumereien.
In Syrien und im Irak ist das türkische Militär in Kriegshandlungen involviert, zuletzt beim Angriff auf die Stadt Mossul, die eine internationale Allianz von den Terrorschergen des Islamischen Staates (IS) befreien will. Bagdad hat die türkische Beteiligung scharf verurteilt und sieht die Soldaten als Besatzer an. In den schiitisch dominierten Regionen des Irak kommt es öfter zu Anti-Türkei-Protesten, wobei die türkische Fahne und das Konterfei Erdoğans öffentlich verbrannt werden.
Die Rede des Präsidenten am Donnerstag beim Gedenkakt an Atatürk hatte heuer einen weitreichenden symbolischen Charakter. Erdoğans magische Zahl ist 2023 – hundert Jahre nach Gründung der Republik durch Atatürk soll die Türkei nach Erdoğan'scher Façon umgestaltet worden sein. Allein die starke Rolle des Islam steht dabei im Gegensatz zu den Idealen Atatürks, nicht nur dafür erntet der Staatschef massive Kritik von der säkularen Hälfte des Landes. Aber durch den erstarkten Rückhalt in der Bevölkerung nach dem gescheiterten Putsch Mitte Juli kann Erdoğan sein Ziel wohl schneller erreichen: die Präsidialrepublik, die ihn mit mehr Macht ausstatten würde, soll schon nächstes Jahr kommen – und nicht erst 2023.
Erdoğan gegen Trump
Die dafür nötige Mehrheit im Parlament würde der regierenden AKP die rechtsextreme MHP liefern. Am Freitag zeigte sich MHP-Chef Devlet Bahçeli erneut offen und gesprächsbereit. Beide Parteien sind offensichtlich bemüht, Einigkeit zu demonstrieren, denn der linke Teil des türkischen Parlaments ist schon stark verwundet. Die Regierung ließ ein Dutzend Abgeordnete samt Parteiführung der prokurdischen HDP verhaften und kündigte Strafanzeigen wegen Präsidentenbeleidigung gegen alle 133 Abgeordneten der sozialdemokratischen CHP an. Die CHP steht in der Tradition Atatürks; die öffentliche Demontage der Partei hat ebenfalls Symbolcharakter, so auch der Angriff auf die säkulare Tageszeitung „Cumhuriyet“, die ihre Wurzeln ebenfalls in der Ära Atatürks hat.
Jüngst verhafteten die Behörden ein Dutzend „Cumhuriyet“-Journalisten wegen Terrorpropaganda, am Freitag erfolgte die Festnahme des Herausgebers Akın Atalay am Flughafen in Istanbul. Atalay hielt sich zum Zeitpunkt der „Cumhuriyet“-Razzia in Deutschland auf, trotz Haftbefehl reiste er in die Türkei zurück. Nicht nur „Cumhuriyet“ leidet unter dem aggressiven Feldzug der Regierung gegen die Presse; nahezu alle unabhängigen Publikationen und TV-Stationen sind bereits dicht. Neun Redakteure der prokurdischen Zeitung „Özgür Gündem“ will die Staatsanwaltschaft lebenslang hinter Gitter sehen, darunter auch die Kolumnistin und Schriftstellerin Aslı Erdoğan, die vor drei Jahren Asylschreiberin der Stadt Graz war.
Im Südosten des Landes ist unterdessen auch keine Ruhe in Sicht. Bei einer Explosion in der Provinz Mardin ist ein lokaler Bezirksvorsteher getötet worden; immer wieder verübt die verbotene kurdische PKK Anschläge. Im Übrigen hat im Misak-ı Millî eine kurdische autonome Region freilich keinen Platz.
Wie sich die neue gewählte US- amerikanische Regierung auf die türkische Nahost-Politik auswirken wird, bleibt vorerst offen. WikiLeaks-Enthüllungen ist zu entnehmen, dass AKP-Vertreter offenbar an die Demokraten gespendet haben und dadurch Einfluss sichern wollten. Donald Trumps antimuslimische Rhetorik hat die AKP schwer verärgert, sie verleitete Erdoğan sogar zu einer der seltenen Momente der Selbstkritik. Es sei ein Fehler gewesen, so Erdoğan, dass er vor einigen Jahren, noch als Premier, den Trump-Tower in Istanbul so feierlich eröffnet habe.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2016)