Die Terrorstrategie der Jihadisten des Islamischen Staates in Europa

A picture illustration of an Islamic State flag
A picture illustration of an Islamic State flag(c) REUTERS (DADO RUVIC)
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Der IS will die europäische Öffentlichkeit verunsichern und Zwietracht säen. Dazu hat er Anleitungen für Attentate mit Messern und Lkw herausgegeben.

Der Bekennertext benutzt die üblichen Kampfbegriffe. Ein „Soldat des Kalifates“ habe den Angriff ausgeführt und sei damit der Aufforderung der IS-Führung gefolgt, Bürger von Staaten der Antiterrorkoalition anzugreifen, hieß es in dem Onlineschreiben zum Lkw-Massaker in Berlin, das die Jihadisten auf ihrem Webportal Amaq veröffentlichten. Täter und Details werden nicht genannt, auch ein Bekennervideo wurde am Mittwoch zunächst nicht hochgeladen, sodass Zweifel blieben, ob der sogenannte Islamische Staat (IS) wirklich hinter dem Anschlag steckt. Denn schon in der Vergangenheit reklamierte der IS auch immer wieder Bluttaten für sich, mit denen er vermutlich gar nichts zu tun hatte.

Fest steht: Je stärker die Jihadistenmiliz auf dem Schlachtfeld in Bedrängnis gerät, desto mehr nimmt sie Europa ins Visier. Im Irak und in Syrien mussten die Extremisten große Gebietseinbußen hinnehmen. Iraks Armee und Peshmerga der nordirakischen Kurdenregion haben eine Großoffensive gegen die IS-Hochburg Mossul gestartet. Und auch Raqqa, die Hauptstadt des IS in Syrien, gerät unter Druck der vorrückenden kurdischen Volksverteidigungseinheiten.

Bei seinen geplanten Attacken in Europa stützt sich der IS vor allem auf drei Tätergruppen: aus dem „Kalifat“ eingeschleuste Kämpfer, sozial frustrierte einheimische Muslime, die nie in Syrien waren, oder junge Flüchtlinge, die sich in ihrer labilen, entwurzelten Lage aufhetzen und rekrutieren lassen. Die IS-Kommandanten hätten die strategische Entscheidung gefällt, Europa zu erschüttern, warnte der Chef von Europol, Rob Wainwright. Zu den dafür ausgebildeten IS-Kämpfern komme eine „noch größere Zahl solcher, die niemals in Syrien waren und dennoch fähig sind, sich zu radikalisieren und Attentate auszuführen“.

Vom Drogenhändler zum Jihadisten

Vor allem dieser Personenkreis ist für die Behörden besonders schwer zu greifen. Denn bei diesem neuen Typ Jihadist verwischen oft die Grenzen zwischen Extremismus und „normalem“ Verbrechen. Auffallend viele der nach den Massakern in Paris und Brüssel identifizierten IS-Täter hatten eine kriminelle Karriere hinter sich. Ihre verbrecherischen Fähigkeiten erwarben sie als Straßendiebe, Drogenhändler oder kleine Ganovenbosse, bevor sie für den Islamischen Staat auf Mordmission gingen. Extremismusforscher Peter Neumann vom King's College in London nennt diese Vermischung von Kriminalität und Jihadismus „einen operativen Aspekt des Islamischen Staates“.

„Diese Verbindung mit der kriminellen Welt, das gab es bei Osama bin Laden nicht“, erläuterte Mohammad-Mahmoud Ould Mohamedou, Harvard-Dozent und Vizechef des Zentrums für Sicherheitspolitik in Genf. Und so sind die rekrutierten IS-Anhänger bei der Polizei – wenn überhaupt – zunächst oft nur als gewöhnliche Straftäter und nicht als gefährliche Extremisten registriert.

Vor allem auf dieses volatile extremistisch-kriminelle Milieu, in dem sich Täter bisweilen binnen Wochen radikalisieren, zielen die neuen „Gebrauchsanleitungen“ für Terrorangriffe, die der IS in seinen Propagandamagazinen verbreitet. So enthält die Novemberausgabe des Onlinemagazins „Rumiyah“ genaue Ratschläge für Terrorangriffe mit Lastwagen. „Fahrzeuge sind wie Messer, sie sind sehr leicht zu beschaffen“, heißt es in dem dreiseitigen Artikel. Anders als der Besitz eines Messers rufe der Besitz eines Autos keinerlei Misstrauen hervor. Daher sei dies eine der besten Methoden, Ungläubige zu töten, „weil es die Möglichkeit ist zum Terror für jedermann, der Auto fahren kann“, heißt es in dem Text.

Er enthält auch genaue Checklisten für die Vorbereitung des Wagens, die Wahl und Lage des Anschlagortes sowie die Ablaufphasen der Tat. Pkw oder Geländewagen seien zu leicht und ungeeignet, am besten sei ein beladener Lastwagen, wie ihn „Bruder Mohamed Lahouaiej-Bouhlel“ bei seiner 19-Tonner-Todesfahrt in Nizza benutzt habe, rät der Terrorautor. Denn die Zwillingsreifen der Lkw ließen den Opfern weniger Chancen, dem Zerquetschtwerden zu entkommen. Als mögliche Anschlagsziele listet der Text dann große Versammlungen auf, stark frequentierte Gehsteige, Wahlkampfveranstaltungen und Märkte – wie jetzt der Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin.

Es gibt nur Schwarz oder Weiß

Mit den verstärkten Operationen in Europa will der IS nicht nur Angst verbreiten, sondern auch Zwietracht säen. Schon al-Qaida-Ideologen hatten in der Vergangenheit immer wieder von einer großen weltweiten Auseinandersetzung zwischen „dem Westen und den Muslimen“ fantasiert. Ein wichtiges Schlachtfeld dabei: Europa, wo ein „Bürgerkrieg“ zwischen der muslimischen Bevölkerung und der christlichen Mehrheitsbevölkerung provoziert werden solle. Diese Gedankenwelt wird auch vom IS weitergesponnen. Die bizarre Idee dahinter: Als Reaktion auf brutale Attentate wächst der Druck auf Muslime in Europa, worauf diese sich wiederum verstärkt um den IS scharen.

Die Vorstellung, dass Angehörige verschiedener Religionen friedlich zusammenleben, widerspricht der IS-Ideologie. Alle Muslime, die nicht die extreme Gedankenwelt des IS übernehmen wollen, werden selbst als „Ungläubige“ beschimpft – die Methode des sogenannten Takfir, die auch andere Jihadisten verwenden. So schrieben die IS-Ideologen in der Ausgabe Nummer sieben ihres Propagandamagazins „Dabiq“ von der „Auslöschung der Grauzone“. Das heißt: Es gibt kein Grau, sondern nur Schwarz oder Weiß, „Gut oder Böse“, kein Miteinander, sondern nur ein „Wir gegen die anderen“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2016)

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