Wie ein Terrorist den Staat narrte

Meistgesuchter Mann Europas. Anis Amri veränderte Aussehen und Identität nach Gutdünken.
Meistgesuchter Mann Europas. Anis Amri veränderte Aussehen und Identität nach Gutdünken. (c) REUTERS (HANDOUT)
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Der mutmaßliche Attentäter saß bereits in Italien eine Haftstrafe ab. In Deutschland geriet er rasch ins Visier. Die Behörden erwiesen sich jedoch als machtlos.

Wien/Berlin. 1,78 Meter groß, circa 75 Kilo schwer, schwarze Haare, braune Augen: So lautet der Steckbrief, ausgestellt auf Anis Amri, geboren am 22. Dezember 1992 in Ghaza in Tunesien, für dessen Ergreifung die deutsche Bundesanwaltschaft eine Prämie von bis zu 100.000 Euro ausgeschrieben hat. Es sind die Kenndaten des derzeit meistgesuchten Mannes in Europa, der sich mehrerer Identitäten bediente. Einmal gab er sich als Ahmed Zagloul oder Anis Amir aus, einmal als Ahmed Zarzour oder Mohammed Hassa, wahlweise als Ägypter oder Libanese.

Drei Tage nach dem Attentat auf den Weihnachtsmarkt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in der deutschen Hauptstadt lief die Fahndung nach dem 24-jährigen Hauptverdächtigen auf Hochtouren. Razzien in Wohnungen in drei Berliner Bezirken und im Flüchtlingsheim in Emmerich in Nordrhein-Westfalen, Überprüfung der Patientendaten in Berliner Spitälern, verstärkte Kontrollen an den Grenzübergängen zu den Niederlanden und zu Belgien: Nach einer Reihe von Pannen standen die deutschen Ermittler bei ihrer Jagd nach dem mutmaßlichen Terroristen unter großem Druck.

Bei einem demonstrativen Besuch im Bundeskriminalamt sprach Angela Merkel im Beisein von Innenminister Thomas de Maizière und Justizminister Heiko Maas von einer Bewährungsprobe der Ermittlungsbehörden. Die Kanzlerin lobte die Kooperation zwischen den Bundesländern, und sie sicherte der Polizei die volle Unterstützung zu.

Fingerabdrücke im Lkw

Doch es regt sich Kritik. Nach dem Anschlag ist wertvolle Zeit verstrichen, als die Polizei am Dienstag den Todes-Truck – den polnischen Sattelschlepper – vom Tatort abschleppen ließ, um ihn erst von Spürhunden durchsuchen zu lassen und danach auf die Brieftasche mit den Personaldokumenten – der Duldungsbescheinigung – unter dem Fahrersitz stieß. Dem Attentäter war sie im Handgemenge mit dem später ermordeten polnischen Lenker aus der Tasche gerutscht. Angeblich soll er dabei auch sein Handy verloren haben. Mittlerweile stellten die Beamten zweifelsfrei die Fingerabdrücke Amris im Lkw sicher.

Inzwischen haben sie ein Täterprofil erstellt, das Puzzle im Leben des Tunesiers zusammengefügt, der sich vor bald sieben Jahren im Zuge des Arabischen Frühlings aus seiner Heimat abgesetzt hatte – eines Mannes, den die deutschen Behörden als potenzielles Sicherheitsrisiko, als einen von rund 550 islamischen „Gefährdern“ im Land eingestuft und den sie ein halbes Jahr lang observiert hatten. Im Sommer schon wollten sie ihn nach Tunesien abschieben. Erst am Mittwoch langte indes der Personalausweis aus Tunis ein, der eine legale Rückführung erlaubt hätte – ein Indiz für das langwierige Prozedere bei der Abschiebung in die relativ sicheren Herkunftsländer in Nordafrika.

Amri hatte sich in Deutschland mehrfach verdächtig gemacht. Nicht nur war er als Kleinkrimineller, als Drogendealer im Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg, auffällig geworden, wo er einmal in eine Messerstecherei verwickelt gewesen war. Er hatte Kontakt zur Islamistenszene in Deutschland gesucht, beispielsweise zum in der Zwischenzeit inhaftierten Hassprediger Abu Walaa, dem ominösen, weil auf seinen Video-Postings nur schemenhaft auftretenden „Mann ohne Gesicht“. Laut Überwachungsprotokoll hat sich Amri dabei verklausuliert als Selbstmordattentäter ins Spiel gebracht. Er soll Überfälle erwogen haben, um sich Waffen zu beschaffen und versucht haben, Mittäter zu rekrutieren.

„Mutmaßlicher Bezug zum IS“, so lautete das Fazit der deutschen Behörden nach Ende der schon einmal verlängerten Überwachung im September. Der Verdacht reichte indessen nicht zu einer Festnahme. Die US-Behörden verhängten derweil ein Einreiseverbot über den Tunesier, sie setzten ihn auf die Flugverbotsliste. Auch Italien hat heuer die EU-Partner vor Anis Amri gewarnt: Rom empfahl, ihm die Einreise in die Schengen-Staaten zu verweigern. Zu dem Zeitpunkt hielt er sich längst in Deutschland auf, nachdem er in Italien eine vierjährige Haftstrafe samt Abschiebehaft abgesessen hatte. Vor eineinhalb Jahren – noch vor Beginn der großen Flüchtlingswelle – reiste der Tunesier schließlich via Schweiz nach Freiburg in Deutschland ein. Ralf Jäger, der nordrhein-westfälische Innenminister, beschrieb ihn jetzt als „hochmobil“, weil er im Laufe des Jahres zwischen Nordrhein-Westfalen und Berlin pendelte.

Im Frühjahr 2011 war Amri in Europa aufgetaucht, als registrierter Flüchtling auf der süditalienischen Insel Lampedusa. In Tunesien war er bereits straffällig und in Abwesenheit zu einer fünfjährigen Haft verurteilt worden, nachdem er unter anderem angeblich einen Lkw gestohlen hatte. Auch in Italien kam er bald mit dem Gesetz in Konflikt, als er im Flüchtlingscamp Feuer legte.

Zweitägige Haft nach Routinekontrolle

Dass er sich nach seiner Gefängnisstrafe 18 Monate lang in Deutschland frei bewegen konnte, legt strukturelle Schwächen in der EU-weiten Zusammenarbeit, im Austausch der Sicherheitsbehörden, bloß. Es zeigt die Überforderung der Polizei bei der Überwachung der schieren Menge potenzieller Terroristen und die Grenzen des Rechtsstaats bei der Abschiebung Krimineller. Im April 2016 stellte Anis Amri in Nordrhein-Westfalen einen Asylantrag, gab sich als Ägypter aus, konnte über seine vermeintliche Heimat aber kaum Auskunft geben. Das Amt wies den Antrag ab. Es kam ihm rasch auf die Schliche, war vorerst jedoch machtlos, weil er keine gültigen Papiere besaß. Im Juli fischte ihn die Polizei bei einer Routinekontrolle bei Ravensburg nahe dem Bodensee aus einem Fernbus. Nach zweitägiger Haft kam er wieder frei.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.12.2016)

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