Illegale Migranten: "Alle müssen an einem Strang ziehen"

(c) Clemens Fabry
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Griechenlands Chefdiplomat Dimitris Droutsas spricht im "Presse"-Interview über die außenpolitischen Prioritäten der neuen Athener Regierung, einen EU-Beitritt der Türkei und das Image Griechenlands.

Die Presse: Welche außenpolitischen Prioritäten will das neue griechische Kabinett von Giorgos Papandreou denn anders setzen als die frühere konservative Regierung?

Dimtris Droutsas: Wir haben uns ein großes Ziel gesetzt: Griechenland bei allen großen internationalen Entwicklungen und Ereignissen wieder präsent werden zu lassen und Griechenland wieder jene Stimme zu verleihen, die wir haben müssen – insbesondere  in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Der Schwerpunkt ist dabei eindeutig der Balkan. Wir möchten Griechenland zum Motor der europäischen Integration der Westbalkan-Staaten machen.

Der Schwerpunkt ist also die Nachbarschaftspolitik?

Droutsas: Während unserer EU-Präsidentschaft 2003 haben die Staats- und Regierungschefs der EU und der ganzen Region bei einem Gipfeltreffen die Thessaloniki-Agenda ins Leben gerufen. Diese Agenda, die den südosteuropäischen Staaten eine klare Beitrittsperspektive gegeben hat, ist in den vergangenen Jahren etwas in den Hintergrund gerückt. Aus mehreren Gründen: Es gibt mehr Europa-Skepsis, und die öffentlichen Meinungen in etlichen Staaten sind nicht mehr so begeistert von der Idee zusätzlicher Erweiterungen der EU. Die Dynamik, die wir 2003 entstehen lassen konnten, ist also merklich abgeflaut. Aber wir wollen den ganzen Prozess wieder dynamisieren.

Und wie?

Droutsas: Unser Vorschlag lautet: Bis zu einem bestimmten Datum sollten wir versuchen, alle Staaten des Westbalkan an die EU heranzuführen, konkret bis 2014. Wir haben unsere Initiative  bereits auf mehreren bilateralen Treffen vorgestellt, ich selbst zuletzt auch bei einem EU-Außenministertreffen im Luxemburg und bei meinen jüngsten Treffen mit dem österreichischen Außenminister Michael Spindelegger. Wir sehen, dass Österreich und Griechenland in der Balkan-Region viele gemeinsame Interessen haben, wir könnten da sehr gut zusammenarbeiten.

Warum gerade 2014?

Droutsas: Es ist ein symbolisches Datum – 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Grob gesagt, ist 1914 die Wurzel aller Probleme und Konflikte, die wir in Südosteuropa haben. Deswegen sagen wir: Die Europäische Union als das erfolgreichste Friedensmodell, das wir kennen, soll ihre Verantwortung auch in diesem Teil Europas übernehmen und für Frieden und Stabilität sorgen.

Ein Problem der Region ist der leidige Namensstreit, den Athen und Skopje seit Jahren mit einander über einen Staatsnamen für Mazedonien – „Frühere Jugoslawische Republik Mazedonien“ (FYROM), wie die Griechen sagen – führen. Haben Sie Ideen, wie man aus der derzeitigen Sackgasse herausfinden könnte?

Droutsas: Ich wiederhole: Unser ehrliches Anliegen ist die europäische Integration aller Westbalkan-Staaten also selbstverständlich auch der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien. Wir werden sehr, sehr hart an diesem Ziel arbeiten. Ich sage aber deutlich: Griechenland kann der Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit Skopje nicht zustimmen, bevor die Frage der Namensgebung dieses Landes geklärt ist. Unsere Position ist allen bekannt: Wir treten für einen Staatsnamen mit einer klaren geografischen Determinierung ein und der Name, auf den wir uns einigen, muss gegenüber allen Geltung haben – „erga omnes“, wie das im Völkerrecht heißt.

Könnte ein solcher Kompromiss zum Beispiel Nordmazedonien sein?

Droutsas: Ich glaube, ich enthülle kein Geheimnis, dass der letzte Vorschlag der Vereinten Nationen, unter deren Ägide diese Verhandlungen ja ablaufen, „Republic of Northern Macedonia“, also Republik Nordmazedonien lautete. Das ist ein Vorschlag, den die griechische Seite durchaus in Betracht ziehen könnte.

Also soll die UNO die Angelegenheit lösen?

Droutsas: Wir suchen wirklich den Dialog mit Skopje. Wir wollen nicht die fehlerhafte Politik der vergangenen Jahre fortsetzen, als es keine Kontakte zwischen Athen und Skopje gab. Wir hatten es leider auch mit einer extremen Rhetorik und mit Aktionen der Führung in Skopje zu tun, und das hat sicher nicht zur Entspannung beigetragen. Unser Premierminister Giorgos Papandreou hat vor wenigen Tagen am Rande des letzten Europäischen Rates in Brüssel die Initiative ergriffen und den Regierungschef der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien zu einem informellen Treffen zum gegenseitigen Kennenlernen eingeladen. Die neue griechische Regierung will also frischen Wind in die ganze Angelegenheit bringen und wir sind hoffnungsvoll, dass Skopje auf unsere Gesten und unseren politischen Neuansatz positiv reagieren wird und wir die Namensfrage hoffentlich bald lösen können.

Ein anderer heikler Nachbar Ihres Landes ist die Türkei, eine Art Erzfeind oder Erzrivale Griechenlands. Wie ist denn da der derzeitige Stand der Beziehungen?

Droutsas: Auch hier gilt: Wir wollen eine offene Politik gegenüber der Türkei verfolgen. Die griechische Regierung unterstützt auch die Ambitionen der Türkei, Mitglied der EU zu werden. Wir meinen, dass über diesen Weg die notwendigen Reformmaßnahmen in der Türkei umgesetzt werden können – hin zu einem wirklichen demokratischen Staat: einem Staat, in dem die demokratischen Institutionen gefestigt sind, in dem die Menschen und Minderheitenrechte voll respektiert werden, in dem die Rolle des Militärs eine andere ist als die bisherige, einem Staat, der gutnachbarschaftliche Beziehungen pflegt, die territoriale Souveränität der Nachbarn respektiert und der endlich zur Lösung der Zypernfrage bereit ist. Das sind alles Themen, die auf dem Tisch sind. Wir sind für klare Worte, damit wir wissen, woran wir sind. Wenn Ankara die Verpflichtungen, die die Türkei gegenüber der EU und ihren Mitgliedstaaten eingegangen ist, erfüllt, dann sehen wir Griechen keinen Grund, warum die Türkei nicht der EU beitreten sollte.

Und bilateral?

Droutsas: Bilateral wollen wir die Politik einer aktiven Annäherung, die Athen schon einmal zwischen 1999 und 2004 verfolgt hat, erneut fortsetzen. Diese Politik basiert auf dem Grundsatz: Ja, es gibt Dinge, die zwischen Athen und Ankara stehen, Aber konzentrieren wir uns doch zunächst einmal darauf, was für gemeinsame Interessen wir haben, um das notwendige Vertrauen aufzubauen, damit wir dann auch die etwas heißeren Kartoffeln anfassen können.

Ein Problem, das Griechenland heute quält, ist die starke illegale Einwanderung gerade via Türkei. Sieht sich Athen bei der Bewältigung dieses Problems eigentlich ausreichend von den EU-Partnern unterstützt?

Droutsas: Dieses Problem ist zuletzt tatsächlich immer größer geworden und beschäftigt zusehends auch unsere Zivilbevölkerung. Illegale Einwanderung ist ein Thema, das ein Staat alleine nicht in den Griff bekommen kann – insbesondere ein Land wie Griechenland nicht, mit seiner offenen Grenze und den vielen Inseln in der Ägäis. Hier müssen alle an einem Strang ziehen.

Wie groß ist dieses Problem in Zahlen ausgedrückt?

Droutsas: Wir sprechen von Größenordnungen von über 150.000 illegalen Einwanderern. Unser Problem liegt darin, dass wir eine Art Brücke sind zwischen jenen Regionen, die heute unter besonders großem Druck stehen – Afghanistan, Pakistan und früher auch der Irak. Viele Menschen von dort sehen ihre einzige Zukunft in Europa. Und sie geben oft ihr letztes Hab und Gut an Schlepperbanden, um ein „Ticket“ nach Europa zu ergattern. Der Weg führt in der Regel von der Türkei über Griechenland nach Europa. Griechenland ist in der Regel nicht das Zielland der Migrantenströme, sondern Transitland.

Zurück zu Europa: Wie können die EU-Partner helfen?

Droutsas: Wir nehmen unsere Verpflichtungen gegenüber unseren EU-Partnern sehr, sehr ernst, versuchen unsere Grenzen zu sichern und möglichst gute Bedingungen für die große Zahl gestrandeter Migranten etwa auf Lesbos oder auch im Großraum Athen zu schaffen Aber die Situation könnte natürlich besser sein. Unser Appell richtet sich an die EU-Partner, Solidarität zu zeigen und uns zu helfen. Denn das Problem betrifft nicht nur Griechenland allein, sondern auch andere EU-Staaten in der Region, etwa Malta. Ich sage ganz offen: Das Verständnis und die Unterstützung der EU in dieser Frage könnte tatsächlich größer sein.

Was müsste getan werden?

Droutsas: Der erste Schritt wäre die Unterzeichnung eines Rückführungsabkommens der EU mit der Türkei. Wir hoffen sehr, dass die Türkei da mit der EU an einem Strang ziehen wird. Ein bilaterales Rückführungsabkommen hat die Türkei leider bisher nicht so berücksichtigt und implementiert, wie sie verpflichtet wäre. Und der Appell an die Türkei ist sicherlich auch, ihre eigenen Grenzen und Küsten effektiver zu kontrollieren und konsequent gegen das Schlepperwesen vorzugehen, um so der illegalen Migration von ihrem Territorium aus einen Riegel vorzuschieben.

Ende des Jahres übergibt Griechenland den Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa an Kasachstan. Viele sehen dieser kommenden OSZE-Präsidentschaft mit größter Skepsis gegenüber – Sie auch?

Droutsas: Kasachstan hat diese Präsidentschaft im Konsensverfahren zuerkannt bekommen. Es ergibt sich für Kasachstan nun die große Chance, zu beweisen, dass für niemanden ein Grund zu etwaiger Skepsis besteht.

Zuletzt eine innenpolitische Frage: Vor gut einem Jahr begannen in Griechenland die Jugendlichen zu rebellieren – offenbar auch aus einer gewissen Zukunftsangst heraus. Besteht die Gefahr, dass es wieder zu einer solchen sozialen Explosion kommen könnte?


Droutsas: Die Revolte im Spätherbst 2008 war sicher Ausdruck einer Frustration und der Sorge um die Zukunft gerade der jungen Generation. Aber das ist sicher kein rein griechisches Phänomen, solche Sorgen plagen die jungen Leute in vielen Ländern. Die Arbeitslosigkeit steigt und selbst akademisch ausgebildete Jugendliche haben mit ihren Abschlüssen keine Garantie mehr auf einen Arbeitsplatz. Bei uns nennen wir sie die 700-Euro-Generation – gut ausgebildete jüngere Leute, die mit relativ geringen Mitteln das Auslangen finden müssen. Der unglückliche Tod eines Schülers durch eine Polizeikugel war dann der Anlass für viele junge Leute, ihre Frustration und ihre Zukunftsangst auf teilweise aggressive Art zu artikulieren. Eine Gruppe von Extremisten hat das ausgenützt, um Krawalle zu initiieren. Es ist sehr, sehr schade, weil dadurch von der Konzentration auf das wirkliche Problem der demonstrierenden Jugendlichen abgelenkt wurde. Die neue griechische Regierung will sich darauf konzentrieren, was die tatsächlichen Probleme der jüngeren Generation sind – und nicht auf den Schaden, den die professionellen Krawallmacher anrichten.

Haben die Ereignisse vom Dezember 2008 Ihrem Land geschadet?

Droutsas: Dem Image Griechenlands haben die damaligen Ereignisse sicher nicht genützt. Aber das Bild, das viele im Dezember 2008 von unserem Land gesehen haben, das ist nicht das wahre Gesicht Griechenlands und seiner Hauptstadt. Das wahre Gesicht Athens und Griechenlands ist jenes der Olympischen Sommerspiele 2004. Das wahre Gesicht Griechenlands ist jenes eines Garanten von Frieden und Stabilität in einer zugegebenermaßen schwierigen Region. Das Versprechen haben wir der Bevölkerung gegeben und wir werden sehr hart und systematisch darauf hinarbeiten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2009)

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