Türkei: Erdoğan will seine Herrschaft ausbauen

(c) AP (BURHAN OZBILICI)
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Der derzeitige Premier strebt ein Präsidialsystem nach amerikanischem Muster an. Nach der für 2011 geplanten Parlamentswahl, so verkündete Erdoğan, wolle er eine neue Verfassung zum Referendum vorlegen.

ISTANBUL. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan macht ernst. Er will in der Türkei ein Präsidialsystem einführen. Schon in der Vergangenheit hatte er immer wieder mit diesem Gedanken gespielt. Doch niemals war er damit so konkret wie in den zwei Fernsehinterviews, die er am Wochenende gab.

Nach der für 2011 geplanten Parlamentswahl, so verkündete Erdoğan, wolle er eine neue Verfassung zum Referendum vorlegen, die auf einem Präsidialsystem nach amerikanischem, vielleicht auch französischem Muster beruhen soll. Laut Erdoğan soll danach die Rolle des Parlamentes gestärkt werden.

Verglichen mit dem amerikanischen System hat das türkische Parlament tatsächlich weniger Einfluss. Denn der Präsident kann seine Entscheidungen ganz unabhängig vom Parlament treffen. Niemand zweifelt im mindesten daran, dass Erdoğan selbst vor hat, die Rolle des neuen Präsidenten zu spielen.

Bruderkampf mit Gül?

Nun hat die Türkei aber bereits einen Präsidenten, nämlich Erdoğans alten Weggefährten Abdullah Gül. Wegen einer Verfassungsänderung streiten sich Staatsrechtler derzeit, ob Abdullah Güls Amtszeit bis 2012 oder bis 2014 dauert. Gül könnte danach noch für eine zweite Amtszeit kandidieren. Bisher scheint Gül auch keineswegs amtsmüde zu sein.

Muss sich Gül also von Erdoğans Vorschlag überfahren vorkommen? Vermutlich. Doch anmerken lässt er sich das bisher nicht. Am Sonntag waren Erdoğan und Gül auf der Hochzeitsfeier eines Sohnes von Erdoğans Stellvertreter Bülent Arinc zusammen zu sehen. Von einer Verstimmung Güls war nichts zu bemerken. Zu Erdoğans Plänen hat er sich bisher auch nicht geäußert.

Ein wenig mag es Gül ja auch gewöhnt sein, Erdoğan jeweils den Stuhl vorzuwärmen. Das war schon so beim Parteivorsitz und beim Amt des Ministerpräsidenten. Warum nicht auch als Staatspräsident? Allerdings lagen diese Fälle immer etwas anders, Erdoğan war jeweils durch Politikverbote verhindert und Güls Rolle als bloßer Stellvertreter war von vornherein klar. Das war im Falle des Präsidentenamtes anfangs nicht so klar. Doch letztlich sind Gül die Hände gebunden. Er könnte zwar als Präsident Erdoğan das Leben schwer machen. Aber ohne eigene politische Bewegung im Rücken hat er langfristig nichts zu gewinnen.

Eine andere Frage ist, was die türkischen Wähler darüber denken. Das Referendum über eine kleine Verfassungsreform, über die das Parlament am Montag beriet, wird ein Stimmungsbarometer sein. Danach kann sich Erdoğan auch ein besseres Bild davon machen, was das Volk von einer Präsidialreform hält. Ein ähnlicher Testcharakter kommt der nächsten Parlamentswahl zu.

Sehnsucht nach neuem Sultan

Bei der Opposition ist man darüber nicht einmal traurig. Denn man wettet darauf, dass Erdoğan die Bevölkerung letztlich polarisiert. Doch das sehen nicht alle so. Der bekannte Meinungsforscher Tarhan Erdem meint, dass Erdoğan noch immer der populärste Politiker der Türkei sei. Wenn sich alles auf die Frage „Tayyip ja oder nein?“ zuspitze, würde die Opposition darunter leiden.

Übrigens ist der Sozialdemokrat Erdem selbst kein Anhänger des Ministerpräsidenten. Man kann sich auch ein wenig darauf verlassen, dass Erdoğan einen guten politischen Instinkt hat.

Und mittlerweile hat das neue System bereits seinen Spitznamen „Sultanlik“, also „Sultansherrschaft“. Das ist natürlich nicht wohlwollend gemeint. Andererseits sehnen sich viele einfache Türken nach einem großen politischen Führer. So etwas wie ein Sultan dürfte es schon sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2010)

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