Türkei: "Vielehe löst den Kurdenkonflikt"

Tuerkei Vielehe loest Kurdenkonflikt
Tuerkei Vielehe loest Kurdenkonflikt(c) AP (Bilal Hussein)
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Ein Bürgermeister aus Erdoğans moderat islamischer Partei AKP eröffnet auf Umwegen eine Diskussion um das Scharia-Recht. Halil Bakirci, Chef von Rize am Schwarzen Meer, will Feindschaft durch Verwandtschaft aufheben.

ISTANBUl. Seit die kurdische Untergrundorganisation PKK vor einem Monat in die Offensive gegangen ist und zahlreiche türkische Soldaten getötet hat, ist das Kurdenproblem in der Türkei wieder in aller Munde. Allein in den vergangenen Tagen starben auf beiden Seiten mehr als 20Soldaten und PKK-Kämpfer, die Türkei setzte auch Flugzeuge und Kampfhubschrauber ein und griff Kurdenstellungen im Nordirak an.

Nationalisten fordern die Wiedereinführung des Ausnahmezustandes in der umkämpften Osttürkei, Premier Recep Tayyip Erdoğan ist dagegen, hat aber auch keine bessere Lösung als Kampf bis zuletzt – und sein „Projekt der nationalen Einheit und Brüderlichkeit“. Letzteres klingt zwar schön, blieb aber bisher inhaltsleer.

Nun hat ein Bürgermeister aus Erdoğans moderat islamischer Partei AKP erstmals einen konkreten Vorschlag mit langfristiger Perspektive dazu gemacht: Halil Bakirci, Chef von Rize am Schwarzen Meer (rund 100.000Einwohner), will Feindschaft durch Verwandtschaft aufheben.

Seine eigene Familie sei dafür ein Beispiel, denn durch seine beiden Ehen habe er Verwandte, die ausgezeichnet Kurdisch sprächen. Das Blutvergießen könne auf diese Weise beendet werden. Früher hätte man ja auch Blutrachefehden durch Ehen zwischen den betroffenen Familien beendet.

„Zweitfrau ist Brauch“

Im Osten sei eine Zweitfrau ein verbreiteter Brauch, behauptete Bakirci, das sei Teil der Kultur, leider erlaubten es die Gesetze nicht. Durch mehr Ehen, also mehr Verwandtschaft, auch mit anderen Volksgruppen, ließen sich „Probleme, die wir seit 30Jahren erleben“, auf ein Minimum reduzieren, während militärische Methoden nur zeitweise Erfolge brächten. Gemeint ist der Kurdenkonflikt. Die Sorge um den Frieden ist indes nur das trojanische Pferd, in dem der freundlich lächelnde Oberbürgermeister mit dem dünnen Oberlippenbart, wie er einmal bei islamisch orientierten Intellektuellen Standard war, noch etwas anderes versteckt: die Rückkehr zum islamischen Familienrecht. Dass Bakirci in seiner Partei mit seinem Plädoyer für die Wiedereinführung der Familien-Scharia offene Unterstützung bekommt, ist unwahrscheinlich. Die AKP würde gemäßigte Wähler verschrecken und ist immer noch der Gefahr eines Parteiverbots durch das Verfassungsgericht ausgesetzt.

Doch gegen den Zeitgeist ist die Idee nicht: Premier Erdoğan betont oft, wie im Nahen Osten alles besser war, als er von den Osmanen regiert wurde. Die logische Folge daraus ist, dass es wieder sein soll wie unter den Osmanen – und unter denen galt die Scharia nun einmal als Gesetz. Eine große Mehrheit der Türken ist freilich klar gegen das religiöse Recht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2010)

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