Deutschland: Die Geister, die Sarrazin rief

Deutschland Geister Sarrazin rief
Deutschland Geister Sarrazin rief(c) AP (Gero Breloer)
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Eine Umfrage zeigt, dass 18 Prozent der Deutschen eine neue Partei wählen würden, wenn ihr Chef Sarrazin wäre. Die Politik versucht, das vernachlässigte Thema Integration an sich zu ziehen.

Berlin. Die Causa Sarrazin ist auch nach dessen Suspendierung und der geplanten Abberufung aus dem Bundesbank-Vorstand keineswegs ausgestanden. Thilo Sarrazin (65) kündigte eine Klage gegen seinen Rauswurf an und sieht sich als Opfer eines „Schauprozesses“. Zugleich findet sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ reißenden Absatz, die Anmeldungen zu den Veranstaltungen seiner bevorstehenden Lesereise sind so zahlreich, dass vielfach geräumigere Ausweichquartiere gefunden werden müssen.

„Probleme beim Namen nennen“

Bei SPD und Union gehen hunderte E-Mails ein, in denen Bürger gegen den geplanten Ausschluss Sarrazins aus SPD und Bundesbank protestieren. Im Internet formieren sich erste Fanclubs, und eine neue Emnid-Umfrage zeigt, dass 18 Prozent der Deutschen eine neue Partei wählen würden, wenn ihr Chef Sarrazin wäre, weil „der endlich ausspricht, was viele denken“. Sarrazin hat jedoch keine Pläne, eine eigene Partei zu gründen.

62 Prozent der Deutschen finden seine „Denkanstöße“ berechtigt. Die Politik versucht daher zu kontern und das Integrationsthema ihrerseits verstärkt aufzugreifen. So bemüht sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Verständnis für den Unmut der Bürger zu zeigen, sich zugleich aber von Sarrazin abzusetzen, der Ausländer verächtlich mache. „Zur Lösung des Problems trägt er gar nichts bei.“ Jedes Kind, ob deutsch oder türkisch, habe seine Chance verdient, so Merkel, Probleme müssten jedoch beim Namen genannt werden, wie etwa die Gewaltbereitschaft sehr religiöser muslimischer Jugendlicher. Viele hätten einen „Multikulti-Traum“ geträumt und Zuwanderer zu wenig in die Pflicht genommen.

Zugleich kritisierten mehrere Unionspolitiker Merkels Umgang mit Sarrazin und seinen Thesen. Es wäre falsch, jede seiner Aussagen zu verdammen, erklärte etwa Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU), und der Chef der baden-württembergischen CDU-Landtagsfraktion, Peter Hauk, forderte in der Integrationspolitik „härtere Bandagen“.

Entscheidung bei Wulff

Bundespräsident Christian Wulff muss nun über den Antrag des Bundesbank-Vorstandes entscheiden, Sarrazin abzuberufen. Bevor er diesen prüft, will Wulff eine Stellungnahme der Regierung einholen. Das Verfahren werde ausschließlich nach Recht und Gesetz durchgeführt, ließ Wulff über seinen Sprecher ausrichten: „Der Bundespräsident wird sich genau überlegen, ob er eine Art politischen Schauprozess vollenden will, der anschließend von den Gerichten kassiert wird.“

Sarrazin ist vergangene Woche mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben entbunden worden und bleibt bis zur Entscheidung des Bundespräsidenten Vorstand „ohne Geschäftsbereich“. Laut „Bild am Sonntag“ will Sarrazin am Montag wie gewohnt zum Dienst in der Frankfurter Notenbank antreten und in Ermangelung anderer Aufgaben Bürgerpost beantworten. Er erwartet, dass ihn Wulff persönlich anhören wird, bevor er seine Entscheidung trifft.

AUF EINEN BLICK

Thilo Sarrazin will gegen seine geplante Abberufung aus der Bundesbank klagen und sieht sich als Opfer eines „Schauprozesses“. 62 Prozent der deutschen Bevölkerung finden seine „Denkanstöße“ richtig. Das Thema Integration wird derzeit in Deutschland vehement diskutiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2010)

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