Navracsics: "Ungarn sind berüchtigt für Immobilität"

Navracsics
Navracsics(c) Michaela Bruckberger
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Der ungarische Vizepremier Tibor Navracsics kann Ängste der Slowaken vor Ungarns Einbürgerungs-Offensive nicht verstehen. "Vertrauen sie ihren eigenen Staatsbürgern nicht?"

Sie wollen bis Jahresende die Verfassung reformieren. Was sind die Eckpukte?

Tibor Navracsics
: Es geht um politische und symbolische Fragen. Es gibt Einverständnis darüber, dass das ungarische parlamentarische Regierungssystem in Ordnung ist, aber einige Kleinigkeiten geändert werden müssen. So ist etwa eine Auflösung des Parlaments derzeit kaum möglich.
Die symbolischen Fragen werden zu einer größeren Debatte führen: Die Nummerierung und der Namen des Grundgesetzes soll sich ändern. Die Verfassung trägt auch heute den Namen des Gesetzes Nummer 20 aus dem Jahr 1949. Viele fühlen sich in ihrer Identität gekränkt – etwa diejenigen, die unter dem Sozialismus gelitten haben. Heftig werden wir auch über die Präambel der Verfassung debattieren: In Ungarn erwarten die Menschen, dass in ihr auf die Geschichte und Identität der ungarischen Nation verwiesen wird. Natürlich müssen wir darauf achten, dass wir dabei nicht die Empfindlichkeiten anderer Völker verletzen.


In der Verfassung wird also der Schutz der Auslandsungarn eingeschlossen?

Navracsics
: Darüber herrscht Konsens. Auch die jetzige Verfassung geht auf die Verpflichtung der jeweiligen Regierung ein, sich um die Auslandsungarn zu kümmern.


Wollen Sie diese Verantwortung verstärken?


Navracsics
: Sicherlich. Ich kenne keine Nation, die darauf verzichten würde, sich um die im Ausland lebenden Landsleute zu kümmern. Wie Sie wissen, planen wir ein vereinfachtes Verfahren zur Einbürgerung. Einzig die Slowakei hat daran Anstoß genommen.


Sie selbst haben auch kroatische Wurzeln. Verstehen Sie daher besser, dass die Nachbarstaaten mitunter Probleme mit dem ungarischen Zugang zum Thema haben?

Navracsics: Ich pflege zu sagen: Ich bin ein typischer Ungar. Väterlicherseits stamme ich von Kroaten ab, und mütterlicherseits von Schwaben. Im Ernst: Nur die Slowakei hat Probleme. Vertrauen sie ihren eigenen Staatsbürgern nicht?


Wie viele Antragsteller erwarten Sie?


Navracsics: Wir erwarten nächstes Jahr 300.000 bis 400.000 Anträge, in erster Linie aus Siebenbürgenn. Im öffentlichen Bewusstsein in Rumänien gilt es als normal, dass die Siebenbürger Ungarn auch die ungarische Staatsbürgerschaft beantragen. Es ist in erster Linie eine emotionale Frage. Die Menschen wollen sich in seelischer Hinsicht zu dieser Gemeinschaft zählen, nicht politisch, geografisch oder physisch. Sie wollen einfach einen Nachweis, dass sie Teil der ungarischen Nation sind. Mir tut es leid, dass die Slowaken eine Machtfrage daraus machen.


Sie erwarten keinen Zuzug aus den Nachbarländern?


Navracsics
: Nein. Die Ungarn sind berüchtigt für ihre Immobilität.


Man könnte auch sagen, Sie versuchen mit diesen Gesetzen der rechtsextremen Jobbik den Wind aus den Segeln zu nehmen. Wird Jobbiks Einfluss schwinden?


Navracsics
: Jobbik ist ein Ergebnis der gesellschaftlichen Frustration. Für Jobbik haben jene gestimmt, die entweder durch sozialen Abstieg von der linken Politik enttäuscht wurden, oder wegen ihres politischen Radikalismus nicht zufrieden waren mit Fidesz. Wir sagen: Schlechte Regierungsarbeit rief Jobbik ins Leben, gute Regierungsarbeit kann den Einfluss wieder verringern.


Die Romaproblematik ist auch eine Triebkraft Jobbiks. Das Problem ist sehr komplex, es umfasst Arbeitslosigkeit, Wohnverhältnisse, Bildung. Wie wollen sie das angehen?

Navracsics: Während Jobbik und die Sozialisten die Romafrage als ethnische Frage sehen, sehen wir darin eine Frage der „Verbürgerlichung“. Das Problem hat eine ethnische Seite, dennoch gibt es keine ausschließliche Romakriminalität oder Romaarbeitslosigkeit. In Krisengebieten wie Nordostungarn ist das Ausbildungsniveau sehr niedrig und Arbeitslosigkeit und Armut sehr hoch. Das verschärft die Spannungen zwischen Ungarn und Roma. Wenn wir dort Wirtschaftswachstum und sozialen Aufstieg ermöglichen, können wir das Problem managen.


Apropos Wirtschaft. Schadet der Abbruch der Gespräche mit dem IWF Ungarn?


Navracsics: Wir glauben nicht, dass uns Nachteile daraus erwachsen sind. Unsere Staatsanleihen waren sehr erfolgreich. Wir haben den Eindruck, dass die Finanzwelt in Ungarns Finanzpolitik und -wirtschaft vertraut. Der IWF hat in keinem offiziellen Statement gesagt, dass er den Abbruch als Konfliktsituation erlebt hat. Es liegt natürlich nicht in unserem Interesse, in Konflikt mit einer internationalen Organisation zu kommen. Ein Eckpunkt der Debatte war die Bankensteuer. Unser Eindruck ist, dass mehrere Länder Lust bekommen haben, die Steuer einzuführen. Wir waren in einer schwierigen Situation: Man hat erwartet, dass das Haushaltsdefizit gehalten wird und gleichzeitig, dass die Sparmaßnahmen die Bevölkerung treffen. Aber fast die Hälfte der ungarischen Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Der Bankensektor fährt aber beträchtliche Gewinne ein. Die ungarische Bevölkerung kann kein neues Sparprogramm mehr vertragen.


Unter einem Sparprogramm würden auch Ihre Popularitätswerte leiden.

Navracsics
: Dieser Gesichtspunkt steht an 20. Stelle. In Ungarn ist Kinderarmut ein immenses Problem. Die Hälfte der Kinder verlässt das Haus morgens ohne Frühstück. Nicht weil die Eltern nachlässig sind, sondern weil das Geld fehlt. Ungarn steht an der Schwelle einer sozialen Krise. Diese muss verhindert werden. Sollte sie eintreten, wäre es viel schwieriger – und teurer – wieder herauszukommen.

Ihre Partei Fidesz regiert seit der Parlamentswahl im April mit einer Zweidrittelmehrheit. Kritiker werfen Ihnen vor, Ungarn umfärben zu wollen – als Beispiel dient etwa das neue Beamtengesetz, dass es der Regierung ermöglicht, Beamten im Schnellverfahren zu kündigen. Wollen Sie die Demokratie abbauen?


Navracsics
: Eindeutig nein. Allerdings: Seit im Herbst 2006 die „Lügenrede“ des damaligen sozialistischen Regierungschefs Ferenc Gyurcsány an die Öffentlichkeit gelangte, wurde das Land von einer tiefen Vertrauenskrise erschüttert; es kam zu einem politischem Patt. Fidesz erhielt das Mandat der Bevölkerung, diesen Stillstand zu lösen. Wir wissen, dass es unter den Wählern viele gab, die eigentlich nicht mit der Politik von Fidesz sympathisierten, jedoch dachten, dass alleine Fidesz entschlossen sei, eine Lösung zu finden. Wir wollen nicht den Rahmen der Demokratie sprengen. Fidesz wurde 1988 gegründet, damit Demokratie entsteht. Nun werden wir von jenen Leuten beschuldigt die Demokratie abbauen zu wollen, die damals alles daran setzten, dass überhaupt keine Demokratie entsteht.


Das Beamtengesetz erweckt dennoch den Eindruck, dass sie eine ähnliche „Vergeltungspolitik“ wie frühere Regierungen betreiben.


Navracsics
: Ich habe nachdrücklich die Gewerkschaften beauftragt mich sofort in Kenntnis zu setzen, sollte jemand aus politischen Gründen entlassen werden. Die Wahrheit ist: Um die ungarische Verwaltung steht es derzeit sehr schlecht. Korruption hat beängstigende Ausmaße angenommen, Kompetenzen sind verwischt. Deswegen haben wir dieses Gesetz verabschiedet. Jetzt kann ein Beamter, der seine Arbeit nicht gut macht, nach einer Frist von zwei Monaten gekündigt werden. Vorher waren es sechs Monate. Laut unserer Statistik beschäftigen die Ministerien derzeit 5500 Beamte; es wurden nur 700-800 entlassen. Eine Entlassungswelle von elf, 12 Prozent von Mai bis jetzt ist bei einem Regierungswechsel durchaus vertretbar.


Für die kurze Zeit eine sehr hohe Zahl. Wollen Sie in dieser Geschwindigkeit weitermachen?

Navracsics: Nein, das liegt am Regierungswechsel. Wir planen eine langfristige Laufbahn für Regierungsbeamte, mit Prämien. Wichtig dabei: Man muss mindestens eine Fremdsprache beherrschen.


Gilt denn eine Tätigkeit in der Verwaltung als attraktiver Job für Junge?


Navracsics
: Es ist nicht besonders attraktiv, die Gehälter sind sehr niedrig. Für junge Leute, die in die Verwaltung einsteigen, gibt es einen Vorteil: die Perspektive Brüssel. Aber: Wenn alle Talentierten nach Brüssel gehen, wer bleibt dann in Ungarn? Anders gesagt: Wir brauchen eine wettbewerbsfähigere Verwaltung.

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