Ob in Paris, Athen, Bratislava oder Prag: Die Wut gegen die Sparpläne der Regierungen wächst, die Bevölkerung hat immer weniger Verständnis für diese Maßnahmen. Zehntausende Europäer protestieren seit Wochen.
Paris/Athen/Bratislava/Prag. Ein fast normaler Tag im heißen europäischen Herbst 2010: In Paris wird aus Protest gegen die Pensionsreform der öffentliche Verkehr lahmgelegt, Raffinerien stehen still. In Athen verhindern unterdessen hunderte zornige Beamte, dass Touristen die Akropolis besichtigten. Ihr Job ist Einsparungen zum Opfer gefallen. Wenige Studen zuvor hatten in Bratislava tausende Menschen gegen die Anhebung der Mehrwertsteuer protestiert. Und fast zeitgleich drohten in Prag öffentliche Angestellte mit „Dauerstreiks“: Die Regierung will ihre Löhne um zehn Prozent kürzen.
„Wollen nicht für Fehler zahlen!“
Seit Wochen protestieren zehntausende Europäer gegen die Sparmaßnahmen, die ihre zum Teil hoffnungslos verschuldeten Regierungen zur Budgetsanierung angekündigt haben. Dass die Bevölkerung immer weniger Verständnis für die Maßnahmen hat, ist augenscheinlich. „Wir haben diese Krise nicht herbeigeführt, wir wollen nicht für die Fehler der Banken zahlen!“, lautet der Schlachtruf, der derzeit bei Demonstrationen europaweit zu hören ist.
Und so war der EU-Protesttag gegen die Kürzungen, der vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) Ende September organisiert worden war, ein Riesenerfolg. Allein in Brüssel marschierten Zehntausende. In Spanien wurde erstmals seit der Amtsübernahme der sozialistischen Regierung Zapatero 2002 ein Generalstreik aufgerufen. Protestiert wurde auch in Italien, Griechenland, Irland, Polen oder Großbritannien. Für zusätzlichen sozialen Sprengstoff sorgt die wachsende Arbeitslosigkeit. Noch nie in den letzten zehn Jahren hatten so wenige Griechen und Iren einen Job, in Spanien hat sich die Quote der Erwerbslosen in den letzten drei Jahren verdoppelt.
„Wegen der Krise haben EU-weit 23 Millionen Menschen ihren Job verloren, durch die Sparmaßnahmen drohen es noch mehr zu werden“, rechnet der EGB vor. Der Dachverband der europäischen Gewerkschaftler stellt sich auf weitere Proteste ein. Er will diese noch stärker auf Europa-Ebene koordinieren. Nicht zu erwarten sei aber ein EU-weiter Generalstreik, sagte EGB-Chef John Monks der Internetzeitung „EUobsever“. „Das würden wir nie durchsetzen. In einigen Ländern gehören Generalstreiks zur Streitkultur. Aber Nordeuropäer, die Deutschen, Briten, Niederländer und Osteuropäer lösen Arbeitskonflikte anders.“
Etwas apokalyptisch warnt Monks: „Das ist eine gefährliche Zeit für unsere Demokratien. Das ist wie 1930.“ Weniger dramatisch bewerten aber andere Experten die sozialen und politischen Folgen der Proteste. „Die Gefahr ist subtiler“, so Charles Grant, Chef des „Center for European Reform“. „Die Proteste werden den Reformwillen der Regierungen bremsen. Das könnte die Stabilität des Euro gefährden.“ Frankreichs Präsident Sarkozy kündigte bereits an, die Pensionsreform werde „die letzte große Reform“ vor Ende seiner Amtszeit 2012 sein.
Diese Gratwanderung für Politiker brachte Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker bereits 2007, bei einem Treffen der EU-Finanzminister, auf den Punkt: „Wir wissen alle, was wir tun müssen. Wir wissen nur nicht, wie wir dann wiedergewählt werden können.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.10.2010)