Unabhängige Richter in Russland? „Ein Märchen!“

(c) AP (OLEG ROMANOV)
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Das Hafturteil vom Dezember gegen Ex-Ölmagnat Michail Chodorkowski sei von oben diktiert worden, sagt eine frühere Gerichtsmitarbeiterin. Menschenrechtler wollen nun erst recht das Urteil überprüfen lassen.

Moskau. Unverhofft kommt im Russland der vergangenen Jahre zwar nicht oft, dafür aber dann gelegentlich gebündelt: Gleich zwei Ereignisse in Russlands Justiz sorgen derzeit für Überraschung und Staunen. Und lassen Mutmaßungen über ihre Tragweite blühen.

Im ersten Fall packte eine Justiz-Insiderin aus und erzählte, wie das im Dezember gefällte zweite Urteil im größten postsowjetischen Justizskandal, dem umstrittenen Prozess gegen Ex-Ölmagnat Michail Chodorkowski, zustande kam: Wie Natalja Wassiljewa, die junge Pressesekretärin des Moskauer Bezirksrichters Viktor Danilkin, im Interview für die Internetzeitung „Gazeta.ru“ am Montag erklärte, habe Danilkin das Urteil nicht geschrieben. Er habe vom übergeordneten Stadtgericht den Text erhalten, genauso wie während des Prozesses telefonische Anweisungen, wie er sich verhalten solle.

Wassiljewa bestätigt damit die Einschätzung der Verteidigung, die die Verurteilung Chodorkowskis zu 14 Jahren Haft wegen angeblichen Öldiebstahls für politisch motiviert hält. Dennoch rief Wassiljewa selbst bei der Verteidigung Ratlosigkeit hervor, worin ihr plötzlicher Vorstoß begründet sei. Die Verteidigung wollte daher vorerst keinen Kommentar abgeben. Wassiljewa ist abgetaucht, im Interview sagte sie, sie sei vom Justizbetrieb enttäuscht. Sie habe Richterin werden wollen, aber bemerkt, dass die Annahme, Richter seien unabhängig, ein „Märchen“ sei.

Derweil appellieren Menschenrechtsorganisationen an die Staatsanwaltschaft, die schweren Vorwürfe zu prüfen und das Urteil gegebenenfalls aufzuheben. Theoretisch hat die Enthüllung das Potenzial für eine Bombe, praktisch wirft sie die Frage auf, woher Wassiljewa Unterstützung hat, da nicht anzunehmen ist, dass sie im heikelsten Prozess des Landes allein auf Konfrontation mit jener Hardliner-Elite geht, die, wie Premier Wladimir Putin, Chodorkowski hinter Gitter sehen will.

„Rechtsnihilismus“ in Russland

Sollte sie nicht vom finanzstarken Chodorkowski-Lager geködert worden sein, bleibt als Variante ein auf Umwälzungen im Land eingestelltes Lager, das auf Präsident Dmitrij Medwedjew setzt. Dieser nannte selbst den Zustand der russischen Justiz „Rechtsnihilismus“. Auch hat er den Vorschlag eines Menschenrechtsgremiums unterstützt, umstrittene Urteile durch Experten analysieren zu lassen. Allerdings bediente er auch die Falken, als er jüngst in Davos das Vorgehen gegen Chodorkowski verteidigte. Die russische Justiz bleibt ein Politikum, einmal korrupt, dann wieder anscheinend unabhängig. Das zeigt die zweite Sensation der Woche: Der 34-jährige Shareholder-Aktivist Alexej Navalny gewann als David im Kampf gegen Staatskonzerne zwei Prozesse. Selbst das Verfassungsgericht verfügte, dass die Konzerne Dokumente und Protokolle über Aufsichtsratssitzungen auch Minderheitsaktionären aushändigen müssen.

Navalny ist als Vorkämpfer für Aktionärsrechte sehr beliebt, deckt er doch auch Korruption auf: etwa im Ölkonzern Rosneft oder beim Pipelinebauer Transneft. Letzterer habe beim Bau der Pipeline zum Pazifik vier Milliarden Dollar Staatsgeldern gestohlen, also 36 Dollar pro Einwohner, behauptet Navalny. Selbst Premier Wladimir Putin reagierte auf die Vorwürfe.

„Diese Gerichtsentscheide sind ein Durchbruch“, sagt Navalny zur „Presse“. „Offenbar wollte man auch ganz oben ein Signal an Investoren aussenden.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.02.2011)

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