Gaddafis letzte Bastion Tripolis wankt

Gaddafis letzte Bastion Tripolis
Gaddafis letzte Bastion Tripolis(c) Reuters (PHILIPPE WOJAZER)
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Libyens Diktator verlor offenbar die Kontrolle über Teile der Hauptstadt. Und immer mehr verweigern ihrem "Revolutionsführer" den Befehl. Einen Überblick über die Zahl der Toten in Tripolis hat niemand.

Als der Krankenwagen kam, waren die Demonstranten erleichtert: Wenigstens würde man jetzt den Verletzten helfen. „Doch als die Ambulanz stoppte, ging die hintere Tür auf. Bewaffnete sprangen heraus und begannen auf die Menschen zu schießen.“ Als der Augenzeuge, der seinen Namen mit Naser angibt, dies dem britischen Sender BBC berichtet, bricht er in Tränen aus.

Seit einer Woche, als die Schlacht um Tripolis begann, spielen sich auf den Straßen der libyschen Hauptstadt solche Horrorszenen ab. Die Metropole am Mittelmeer, in der fast zwei Millionen Menschen leben, ist die einzige größere Stadt Libyens, in der Diktator Muammar al-Gaddafi (68) am Samstag noch einigermaßen die Kontrolle innehatte. Der weiträumige und ölreiche Osten des Wüstenlandes, wo der Aufstand vor zwölf Tagen begann, ist weitgehend in der Hand der Regimegegner. Und immer mehr Städte im Westen befreien sich ebenfalls von ihren Unterdrückern.

„Es sieht ganz danach aus, dass Gaddafi nicht länger die Kontrolle über die Situation in Libyen hat.“ Das sagte Samstagnachmittag Gaddafis engster Verbündeter in Europa – Italiens Premier Silvio Berlusconi, der sich in den vergangenen Tagen mit Kritik am brutalen Vorgehen der libyschen Sicherheitskräft nicht eben hervorgetan hatte. Verteidigungsminister Ignazio La Russa beeilte sich am Samstag denn auch zu beteuern, sein Land würde sich EU-Sanktionen gegen Libyen selbstverständlich anschließen und bot an, einen Nato-Gipfel zur Libyen-Krise auszurichten.


Immer mehr Deserteure. In arabischen Sendern wie al-Jazeera mehren sich Berichte, wonach auch die ersten Vororte Tripolis‘ von der Opposition kontrolliert werden: „Tripolis erhebt sich“, wird ein Bewohner zitiert. Auch in der Hauptstadt sollen immer mehr Angehörige der hier noch für Gaddafi kämpfenden Truppen desertieren, und sich der aufständischen Bevölkerung anschließen.

Freitagnachmittag hatten Gaddafis Milizen erneut das Feuer auf tausende Menschen in Tripolis eröffnet, die nach dem Freitagsgebet auf die Straßen geströmt waren um gegen das Regime zu protestierten. „Vielen Leuten wurden in den Kopf geschossen“, beschrieben Bewohner das jüngste Massaker, „als ob wir Hunde wären“. Gaddafis Milizen hätten willkürlich auf die Demonstranten gefeuert.

Auch zuhause fühlen sich die Menschen nicht mehr sicher: „Wir haben Angst. Angst, weil wir Frauen sind. Ich habe Töchter, aber in den Häusern gibt es als Waffen nur Messer. Wir haben nichts anderes, wir haben nur Gott“, sagte eine Frau gegenüber al-Jazeera. Seit Tagen berichten Einwohner, dass Gaddafis Milizen nachts systematisch in Wohnhäuser eindringen, Oppositionelle verschleppen, Familien einschüchtern, plündern, Frauen vergewaltigen. Viele Menschen verbarrikadieren sich deswegen in der Nacht in ihren Wohnungen, schieben von innen Schränke gegen die Wohnungstür.

Gaddafi hatte die Regimegegner als „Ratten“ bezeichnet und am Freitagabend bei einem spontanen und ziemlich wirren Auftritt im Zentrum von Tripolis sein jubelndes Fußvolkes zum unerbittlichen Kampf gegen die Opposition aufgerufen. Er kündigte an, dass er alle seine Anhänger „mit Waffen ausrüsten“ werde. Gaddafi-Sohn Saif al-Islam bot den aufständischen Massen, die er als „Terroristen“ bezeichnet, derweil einen Waffenstillstand und Verhandlungen an. Letzte Rettungsversuche eines Regimes, das mit dem Rücken zur Wand steht?


Opferzahl ungewiss. Einen Überblick über die Zahl der Toten in Tripolis hat niemand: Einziger Anhaltspunkt für das Ausmaß der Gräuel sind die Berichte von Augenzeugen: „Bei den ersten Feuerstößen starben sieben Menschen in meiner Nähe“, berichtet ein Libyer von den Massakern am Freitag. Ein anderer sah „20 tote Körper auf dem Boden liegen“. Ein dritter berichtet, dass etwa „60 Personen starben“. Sicher ist scheint also nur, dass es in der Millionenstadt schon viele Opfer gab. Und dass Gaddafis Regime versucht, seine Untaten zu vertuschen. Ärzte rechnen allein in Tripolis bisher mit rund 1000 Toten und Verletzten.

Heimlich gemachte Videoaufnahmen aus der Hauptstadt zeigen, wie Demonstranten um ihr Leben rennen: Schüssen peitschen auf, Menschen fallen zu Boden, man hört Schreie, Blutlachen bedecken den Boden. Ein Amateurfilmer wird tödlich getroffen, während er mit seinem Handy gerade Aufnahmen macht. Auf anderen Bildern sieht man, wie ein verletzter Regimegegner von Gaddafi-Milizen über die Straße gezerrt und im Kofferraum eines Wagens abtransportiert wird.


Aus Krankenhäusern gekidnappt. Seit Tagen gibt es Berichte, dass Gaddafis Schergen Verletzte auf den Straßen verschleppen und exekutieren. Verletzte werden offenbar sogar aus den Krankenhäusern gekidnappt und getötet. Die Toten aus den Leichenhallen und auf den Straßen lassen die Milizen ebenfalls verschwinden.

Der übergelaufene libysche Diplomat Ibrahim Dabbashi glaubt, dass hunderte von Leichen in der Wüste versteckt werden, um Massaker zu vertuschen. Dabbashi, bis vor kurzem stellvertretender UN-Botschafter seines Landes, warnte, dass Gaddafi „ein Verrückter“ sei und bis zum Ende kämpfen werde. Übergelaufen ist auch der ehemalige Innenminister, der Durchhalteparolen ausgab – an die Adresse der Demonstranten: Nur Tripolis und ein paar wenige andere Städte seien noch in den Händen Gaddafis: Er fordere deshalb das Volk auf, nicht zurückzuweichen.

Auch wenn die Situation am Samstag zunächst ruhiger war als in den Tagen zuvor, gab es dafür keine Anzeichen. Auch aus anderen Städten in der Umgebung von Tripolis, in denen in den letzten Tagen noch gekämpft worden war, wird berichtet, dass der Rückhalt für Gaddafi schwindet. In der Stadt Zawiyah, 60 Kilometer westlich von Tripolis, verbrüderten sich offenbar Gaddafis Soldaten mit der aufständischen Bevölkerung. Videos zeigen, wie Militärs von jubelnden Menschen umarmt und wie Helden auf Schultern durch die Straßen getragen werden. Gaddafi hat zur Schlacht um Tripolis gerufen – doch immer mehr Soldaten verweigern ihm einfach die Gefolgschaft.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2011)

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