Bengasi: Lebendig begraben in Gaddafis Kerkern

Bengasi Lebendig begraben Gaddafis
Bengasi Lebendig begraben Gaddafis(c) EPA (KHALED ELFIQI)
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Fieberhaft suchen die Menschen nach unterirdischen Verliesen, in denen das Regime seine Gegner verschwinden ließ. Die Lage in Libyens zweitgrößter Stadt bleibt angespannt.

Die Menschen sind sichtlich aufgebracht. Sie gestikulieren wild und fuchteln mit ihren Schaufeln herum. Inmitten der Menge heult ein Dieselmotor auf. Wie ein Rieseninsekt wankt der gelbe hydraulische Bagger nach vorne, die beiden Kopflampen werfen ein zitterndes Licht in die Nacht. Die Schaufel mit ihren Metallzähnen bohrt sich in den roten, lehmigen Boden. Genau hierhin, an diesen Ort, sollen gefesselte Menschen hingebracht worden sein, sagen die Leute.

Die Erde riecht frisch, plötzlich kracht und splittert es – die Kante einer Betondecke. Hastig kratzen Helfer etwas von der Fläche frei. In den Tag zuvor hatten sie bereits in der Nähe unterirdische Verliese mit Eingesperrten gefunden, in einem zwei, im anderen sechs, im größten gar 40 Gefangene, von denen drei tot waren. Einige der Geretteten sollen fünf Jahre lang quasi lebendig begraben gewesen sein, berichten die Menschen bebend vor Empörung.

„Ruhe, Ruhe“, heißt es plötzlich, und die Menge verstummt. Selbst der Bagger schaltet seinen Motor ab, hinter ihm kreist nur noch stumm das Blaulicht eines Krankenwagens. Mit Spitzhacken und Vorschlaghämmern hacken die Retter ein erstes Loch in die unterirdische Mauer aus grauen Leichtziegeln, rufen in die Öffnung und leuchten mit Taschenlampen hinein – nichts. Das kleine Verlies ist leer. Es hat keine Tür, nur Wände ringsherum und oben unter der Decke ein weißes Luftrohr. Schnell geschlagene Gucklöcher führen zu weiteren Erdzellen, ebenfalls ohne Tür und ebenfalls leer. An einer Ecke des unterirdischen Gefängnisses finden die Helfer schließlich die Öffnung – eine kleine Betonklappe. Hier sollten die Menschen nach unten gestoßen und offenbar anschließend in ihre neu gebauten Särge mit Luftrohr eingemauert werden.

„Befreit Libyen von diesem Nero“

Katiba nennen die Bewohner Bengasis das weitläufige Militär-, Geheimdienst- und Gefängnisareal inmitten der Stadt. Katiba, das war der Inbegriff von Terror, Angst und Schrecken. Hier standen die Kasernen von Gaddafis Elitetruppen. Hier war ein Palast des Diktators, umgeben von einer Spezialmauer. Das überraschend kleine Gebäude in Zeltarchitektur ist längst eine geplünderte, verkohlte Ruine. Auf die verrußte Wand hat jemand mit Kreide „Befreit Libyen von diesem Nero“ gekritzelt. Höchstens einmal im Jahr, erzählen die Menschen, ließ sich der Gewaltherrscher für kurze Zeit im widerspenstigen Bengasi blicken.

Fünf Tage lang rannten die Aufständischen praktisch ohne Waffen gegen die Elitesoldaten und afrikanischen Söldner an, die mit Flugabwehrgeschossen und Panzerfäusten auf sie feuerten. Mehr als 350 Menschen wurden getötet. Schließlich gelang es den todesmutigen Angreifern, mit selbst gebastelten Sprengsätzen die schweren Metalltore aufzuzwingen. Das TNT hatten sie sich aus nahen Steinbrüchen besorgt.

Ölingenieur Ibrahim Bakush ist seither rund um die Uhr hier. Er war einer der Ersten, die nach der Eroberung das hochgeheime Militärareal nach verdächtigen Löchern im Boden absuchten. Selbst unter den Fundamenten der Moschee auf dem Gelände lässt er graben. Seine Leute entdeckten unter anderem den Gang zu einem Folterkeller: „Wir vermuten ein ganzes System unterirdischer Zellen“, erläutert Iyad Ali, einer der Helfer. Man habe Stimmen aus der Tiefe gehört, wisse aber nicht, wie man an die Menschen herankommen könne: „Ich habe am ganzen Leib gezittert“, sagt der Maschinenbauer. Er vermutet, dass es sich um Soldaten handelt, die den Schießbefehl gegen die Demonstranten verweigerten. Ihre Offiziere haben die Eroberer bereits gefunden – gefesselt und verkohlt in einer Kaserne.

Erbeutete Gewehre in der Stadt verteilt

Derweil versucht der Rat der Aufständischen, das Leben am Laufen zu halten. Ein Dutzend Ressorts wurde an anerkannte Bürger vergeben: „Die Stadt war noch nie so sauber, ich schwöre es“, schmunzelt Bauunternehmer Mustafa Gheriani, der als Freiwilliger mit anpackt. Seit zwei Tagen ist sogar die neue Zeitung „Freies Libyen“ zu haben. Mit den Bewohnern kommuniziert die Führung der Aufständischen inzwischen über einen eigenen Radiosender.

Das Gelände vor dem Gebäude ist längst Treffpunkt für die ganze Stadt. Zelte sind aufgebaut, tausende Decken und Matratzen gestapelt. Selbst Mohammed Mukhtar ist gekommen, „um die Revolution zu unterstützen“, wie er sagt. Der Hochbetagte ist Sohn des 1931 in Bengasi von den italienischen Kolonialherren hingerichteten Nationalhelden Omar Mukhtar.

Doch noch haben die Aufständischen den Sieg nicht errungen. „Die Gaddafi-Leute sitzen in ihren Wohnungen und warten ab“, warnen die Mitglieder des Revolutionskomitees. Zwei der fünf Facebook-Initiatoren der Proteste seien seit Tagen spurlos verschwunden: „Es ist nach wie vor sehr gefährlich.“ Die Aufständischen haben erbeutete Gewehre in der Stadt verteilen lassen.

Die Menschen draußen auf dem Platz jedoch kümmern die Sorgen ihrer neuen Führung wenig. Ein Student mit dicker Sonnenbrille und roter Filzmütze lässt sich als Gaddafi-Imitator durch die Menge fahren. „Ihr habt mir meine Katiba kaputt gemacht“, kreischt er unter dem Gejohle der Menge und verspricht jedem „5000 Dinar, wenn er mit der Revolution aufhört“. „Hau ab, wir brauchen dich nicht mehr“, jauchzen die Menschen zurück und: „Lass dir erst einmal die Haare schneiden.“ Viele haben Tränen in den Augen – zum ersten Mal vor Lachen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2011)

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