Lokalaugenschein: "Das Töten in Syrien muss aufhören"

Toeten Syrien muss aufhoeren
Toeten Syrien muss aufhoeren(c) Reuters
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Auf den ersten Blick wirkt alles ganz normal in Damaskus. Doch der Schein trügt. Unter der Oberfläche brodelt es. Das Regime hält sich nur noch mit Gewalt an der Macht.

Menschen fliehen nach Jordanien, in den Libanon, in die Türkei. Das ist nicht Syrien!“ Seit die Proteste Mitte März ausbrachen, ist George Jabbour von Dutzenden arabischen und ausländischen Medien befragt worden. Als Professor für Geschichte, ehemaliger Parlamentarier, Vorsitzender der syrischen Gesellschaft für die Vereinten Nationen und Ex-Berater des früheren Präsidenten Hafez al-Assad kennt Jabbour sich in Syriens Politik bestens aus. Frau Jabbour tischt Wasser, Kaffee und Eis auf, äußert vorsichtig die Hoffnung, dass der bevorstehende Freitag ruhig bleiben und keine neuen Toten bringen möge. Die Unsicherheit in Syrien zehre an den Nerven, sagt sie, und ihr Mann stimmt zu. Die hohe Zahl der Toten sei unerträglich, die Kämpfe müssten ein Ende haben.

Syrien sei für die Sicherheit bekannt gewesen. Nicht zuletzt deshalb seien mehr als eine Million Iraker nach Syrien geflohen. Nun gebe es Berge von Waffen, von denen niemand wisse, wie sie ins Land gekommen seien. „Und wer schießt außer der Armee und den Sicherheitskräften?“ Jabbour geht davon aus, dass ausländische Kräfte die legitimen Proteste der Syrer für eigene Interessen ausnutzten, es gebe viele Gegner der syrischen Politik.

Die Forderungen der Demonstranten nach wirtschaftlicher Teilhabe und freier politischer Betätigung seien berechtigt, bekräftigt Jabbour, der die Baath-Partei von innen zu reformieren versuchte. „Schon vor Jahren haben wir im Parlament über Parteien- und Wahlreformen gesprochen, doch das wurde nicht ernst genommen.“ Nun erhalte die Regierung die Quittung, ein nationaler Dialog sei unabdingbar. „Früher hat die Opposition Dialog gefordert und die Regierung lehnte ab. Heute ist es umgekehrt“, sagt er und folgt mit dem Blick durch die große Fensterfront zwei Hubschraubern, die ihre Runde drehen. „Einige in der Opposition halten sich für stark, lehnen den Dialog ab. Regierung und Opposition müssen miteinander sprechen, sonst gibt es Bürgerkrieg.“

Schleier im Unterricht. Auf den Straßen von Damaskus mahnen Plakate mit warnend erhobenen roten und grünen Händen die Bevölkerung, ihre Proteste im gesetzlichen Rahmen zu halten. Der hat sich mit der Aufhebung des Ausnahmezustandes und der Auflösung der Staatssicherheitsgerichte, mit der Diskussionen über neue Wahl-, Parteien und Mediengesetze zwar dramatisch erweitert, kann aber wegen anhaltender Gewalt kaum wahrgenommen werden. Vor allem konservative Muslime haben bisher profitiert: eine Religionsschule wurde eröffnet, Gefangene der Muslimbruderschaft freigelassen, Lehrerinnen dürfen im Unterricht wieder den Gesichtsschleier tragen, was vor einem Jahr verboten worden war. Die Armee nimmt ausländische Journalisten mit zu Operationen, doch der Zugang zu Informationen bleibt schwierig. Unkontrollierte Gespräche mit der Bevölkerung sind unerwünscht, eigenständige Fahrten durchs Land werden – aus Sicherheitsgründen – nur in Einzelfällen bewilligt.

Die syrische Opposition ist vielfältig und wenig organisiert. In ländlichen Gebieten und den Vorstädten von Damaskus will man bessere wirtschaftliche Bedingungen und den „Sturz des Regimes“. Studierende und Intellektuelle wollen politische Reformen. Sie fordern ein Ende der Einparteienherrschaft. Für die meisten von ihnen bleibt Präsident Assad „Teil der Lösung, nicht Teil des Problems“. Kurdische Parteien, die enge Kontakte zu Kurden im Nordirak und der Türkei haben, hielten sich bei Protesten bisher zurück. Offiziell zwar verboten, dürfte auch die Muslimbruderschaft gut vernetzt sein. Sie hat enge Beziehungen zu Glaubensbrüdern in Jordanien, Libanon und der Türkei. Die Internetseite „Syrische Revolution 2011“ wird von der Muslimbruderschaft im schwedischen Exil betreut. Sie brachte die Freitagsproteste ins Rollen und versieht sie jeweils mit einem neuen Motto. Damit sind keineswegs alle Syrer einverstanden, auch wenn sie die Regierung kritisieren. So distanzierten sich Stämme im Nordosten kürzlich von dem über „Syrische Revolution 2011“ ausgerufenen „Tag der Stämme“.

„Wächter der Heimat, Friede sei mit Euch, unser stolzes Volk wird sich nie unterjochen lassen.“ Die ersten Zeilen der syrischen Nationalhymne sind kaum zu hören, die etwa zwei Dutzend junge Leute singen, während sie langsam die Al Salhiha hinuntergehen, eine der zentralen Einkaufsstraßen in Damaskus. Abenddämmerung liegt über der Stadt. Familien schlendern an den hell erleuchteten Schaufenstern vorbei, Straßenhändler bieten kleine Leckereien an, aus Musikgeschäften schallen die Lieder syrischer Popstars. Alles wäre ganz normal, wäre da nicht diese Gruppe junger Leute, die die Nationalhymne singen. Passanten sehen ihnen nach, Polizisten folgen dem ungewöhnlichen Chor, plötzlich geht alles ganz schnell. Einige aus der Gruppe werden in ein Geschäft abgedrängt und rüde abtransportiert.

Korruption und Vetternwirtschaft. Organisiert wurde die Aktion, die in einem Film im Internet verfolgt werden kann, von jungen Leuten aus der Damaszener Mittelschicht. Sie studieren oder arbeiten, sprechen eine oder zwei Fremdsprachen. Keiner ist älter als 30, die Generation „Bashar“. Das Treffen mit ihnen findet in einer Wohnung statt, niemand will fotografiert werden. Die 28-jährige Lamia erzählt, dass sie mit der aus dem Ausland agierenden Opposition keine Verbindung hätten.

Über Geschehnisse in anderen Städten informieren sie sich über syrische Facebookseiten, über Freunde und Verwandte. Lamia arbeitet im Gesundheitssektor und hat sich den Protesten angeschlossen, weil das Gesundheitssystem durch Korruption und Vetternwirtschaft heruntergekommen sei, wie sie sagt. „Das Wichtigste ist, dass das Töten der Zivilisten aufhört. Die Regierung soll uns Zeit und Bewegungsfreiheit geben, dann können wir unsere Forderungen besser und ausführlicher begründen.“

„Wir haben Überzeugungen.“ Der 23-jährige Student Mansour will von einem Dialog nichts wissen. Zu viele Menschen seien gestorben, Präsident und Regierung müssten zurücktreten, eine Übergangsregierung solle Wahlen vorbereiten, nachdem ein neues Wahlgesetz ausgearbeitet worden sei, fordert Mansour. „Als Syrer will ich eine Sache ganz deutlich sagen“, meint der 25-jährige Adem. „Ich will keine Hilfe aus dem Ausland, ich will nur, dass meine Stimme in der Welt gehört wird.“ Vielleicht seien die Syrer nicht so weit wie die Ägypter, aber „wir sind ein Kulturvolk“, sagt Adem. „Wir haben Überzeugungen und eines Tages werden wir unsere Ziele erreichen.“

("Die Presse am Sonntag", Print-Ausgabe, 19. Juni 2011)

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