Libyen will Iraks Schicksal entgehen

(c) AP (Francois Mori)
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Die Führung der Rebellen versucht die Fehler, die nach dem Sturz von Saddam Hussein gemacht wurden, zu vermeiden. Indes meldet sich Diktator Gaddafi via TV und verkündet: „Ich bin zum Märtyrertod bereit."

Sporadische, zum Teil heftige Gefechte rund um Gaddafis Festung Bab al-Azizia, die Stimme des libyschen Diktators im Radio, der meint, er habe Bab al-Azizia „aus taktischen Gründen" verlassen und bewege sich inkognito in Tripolis. Er habe nicht das Gefühl, dass die libysche Hauptstadt gefallen oder jemand einmarschiert sei, so der Inhalt der bizarren Gaddafi-Ansprache. Er sei jedenfalls zum Märtyrertod bereit.

Hektisch wird nach Gaddafi gefahndet, die Rebellen versprechen jedem Amnestie, der ihn tot oder lebendig bringt, ein Geschäftsmann bietet eine Million Euro Kopfgeld. Vermutlich ist der frühere Diktator noch in Tripolis, in seiner Heimatstadt Sirte und in Sabha hat er noch Anhänger. 400 Menschen seien bei den Kämpfen in Tripolis seit Sonntag getötet worden, tausende verletzt. Die Übergangsregierung verlegt ihren Sitz von Bengasi nach Tripolis.

Langsam lichtet sich der Nebel des Krieges, langsam werden die Meldungen zuverlässiger. Es ist wie ein Déjà-vu. Nur ist es diesmal der Shadid-Platz, nicht der Firdous-Platz, auf dem der Sieg über den Diktator gefeiert wird, es ist Tripolis und nicht Bagdad, und es sind die Porträts von Oberst Muammar al-Gaddafi und nicht die von Saddam Hussein, die von den Gebäuden gerissen und durch den Dreck gezogen werden.

Doch vor acht Jahren war es ein US-Panzer, der die Saddam-Statue vom Sockel gezogen hat, in Tripolis waren es die Libyer selbst, die Gaddafi aus seiner Festung Bab Al-Azizia vertrieben haben.

Von Karl Marx stammt das Zitat, dass sich die Geschichte wiederholt: zuerst als Tragödie, dann als Farce. Ob die Siegesfeiern einen Schlusspunkt hinter die Gewalt der letzten Monate setzen, wird sich zeigen - auch Saddams Tod am Strang brachte im Irak kein Ende des Tötens. Die neue libysche Führung versucht die Fehler, die 2003 gemacht wurden, zu vermeiden: Nach dem Sturz Saddam Husseins wurde die gesamte Armee entlassen, hunderttausende Offiziere und Mannschaften waren ohne Geld, Brot und Zukunft. Aus diesen Reihen rekrutierten Extremisten erfolgreich jene Kämpfer, die die Besatzungstruppen über Jahre bedrängten und die irakische Bevölkerung terrorisierten.

Die neue Führung hat allen Militärs, „die in keine Kriegsverbrechen verstrickt waren", zugesichert, dass es Platz für sie geben werde im neuen Libyen. Sie wollen verhindern, dass sich die Kämpfer der überraschend weggeschmolzenen Khamis-Brigade und andere Gaddafi-Loyalisten, die die Uniform ausgezogen haben, nun für den Guerilla-Krieg rüsten.

Geschichte, die sich reimt

US-General Jay Garner, der erste Statthalter der USA nach dem Fall Saddams, meinte im Gespräch mit dem britischen Sender BBC, dass es nun darum ginge, „Technokraten für die verschiedenen Regierungspositionen zu finden, die akzeptabel sind". Einige Mitglieder des neuen Nationalen Übergangsrats waren zuvor Mitglieder des Ancien Régime Gaddafis - ein Element der Kontinuität, das im Irak gefehlt hat.

Garner betont auch die Notwendigkeit der raschen Wiederherstellung von Recht und Ordnung und der notwendigsten öffentlichen Dienstleistungen wie Trinkwasserversorgung, Elektrizitätsversorgung sowie Müll- und Abwasserbeseitigung. Doch im Gegensatz zum Irak gibt es keine Besatzungsmacht, sondern eine Koalition von Rebellen, deren Zusammenhalt vor allem durch ihre Feindschaft zu Gaddafi garantiert wurde. Doch wie belastbar und stabil wird diese Koalition jetzt, nach der Erreichung des vordringlichsten Ziels, der Vertreibung Gaddafis von der Macht, sein.

Vielleicht hatte Mark Twain recht und nicht Karl Marx. Twain meinte, die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.

Auf einen Blick

Die Rebellen scheinen die Lage in der libyschen Hauptstadt langsam in den Griff zu bekommen. Bisher gibt es keine Berichte von einem Zusammenbruch der Ordnung oder groß angelegten Plünderungen. Die Gefechte rund um Gaddafis Festung Bab al-Azizia ebben ab.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25. August 2011)

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