Libyen: Folter wie unter Diktator Gaddafi

(c) AP (Alexandre Meneghini)
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Nichtregierungsorganisationen werfen den neuen Machthabern vor, Gefangene systematisch zu misshandeln. Machtkämpfe stürzen das Land ins Chaos. Aufgebrachte Menge stürmte die Büros des Nationalen Übergangsrates.

Kairo/Tripolis. Libyens Ex-Diktator Muammar al-Gaddafi ist seit drei Monaten tot, doch im Land geht es weiter drunter und drüber, die Machtverhältnisse sind alles andere als geklärt: In Tripolis gingen kürzlich rivalisierende Rebellen mit Panzerfäusten und Kalaschnikows aufeinander los. In Bengasi, wo der Aufstand vor einem Jahr begann, stürmte eine aufgebrachte Menge die Büros des Nationalen Übergangsrates, warf Brandbomben und zertrümmerte die Einrichtung.

Der UN-Menschenrechtsrat und die NGO Amnesty International prangerten diese Woche derweil das willkürliche und brutale Treiben der sogenannten „Revolutionsbrigaden“ an. Diese Exrebellen hielten auf eigene Faust tausende ehemalige Unterstützer des Gaddafi-Regimes in ihren Ad-hoc-Gefängnissen fest – darunter viele Afrikaner. „Ärzte ohne Grenzen“ stellte sogar aus Protest in Misrata seine Arbeit ein. Häftlinge würden misshandelt und dringende medizinische Versorgung würde ihnen verweigert, erklärte die Organisation.

Fit machen für die Folter

Immer häufiger seien Ärzte mit Verletzungen konfrontiert, die durch Folter verursacht wurden. „Patienten werden mitten aus Verhören zu uns gebracht. Wir sollen sie dann wieder fit machen für weitere Verhöre, das ist völlig unakzeptabel“, erklärte MSF-Chef Christopher Stokes. Nach Erkenntnissen von Amnesty wird in Libyen inzwischen wieder systematisch gefoltert – mehrere Opfer seien bereits gestorben.

Kurz vor dem ersten Jahrestag des Aufstands gegen Gaddafi am 17. Februar breiten sich in dem ölreichen Mittelmeerstaat Gewalt und Unruhe aus. Polizei und Justiz sind weitgehend unfähig und ohnmächtig. Selbst in Tripolis und Bengasi hat der Nationale Übergangsrat es bisher nicht geschafft, die Waffen einzusammeln und die Kämpfer in Armee und Polizei zu integrieren. Zwar stellte sich vor einigen Tagen die angebliche Rückeroberung der Oasenstadt Bani Walid durch Gaddafi-Getreue als Falschmeldung heraus. Doch die Gefahr eines chronischen Bürgerkriegs auf kleiner Flamme wächst. Misrata und Zintan, die Hochburg des Widerstands in den Nafusa-Bergen, führen ein autonomes Eigenleben. Verwundete des Bürgerkrieges klagen, sie hätten immer noch keine finanzielle Unterstützung erhalten.

„Loch ohne Boden“

In den Augen ihrer Kritiker tut die neue Führung viel zu wenig, um das durch acht Monate Bürgerkrieg verwüstete Land zu stabilisieren. Der Vizechef des Übergangsrates, der angesehene Anwalt Abdul Hafiz Ghoga, trat vergangene Woche zurück, nachdem auf dem Campus einer Universität 4000 Studenten versucht hatten, ihn zu verprügeln. Man warf ihm vor, zu spät mit dem Gaddafi-Regime gebrochen zu haben.

Übergangspräsident Mustafa Abdul Jalil, Justizminister unter Gaddafi, warnte daraufhin seine Landsleute in einer dramatischen Rede, Libyen werde „in ein Loch ohne Boden fallen“, falls der wachsenden Gewalt kein Einhalt geboten werden könne. Immer wieder hatte er in den vergangenen Monaten an die Bevölkerung appelliert, das Gesetz nicht in die eigene Hand zu nehmen, keine Rache zu üben und das Eigentum von ehemaligen Regimetreuen zu respektieren. Doch seine Rufe verhallen zunehmend ungehört. Einmal bewarf ihn die aufgebrachte Menge sogar mit Plastikflaschen und zündete seinen Dienstwagen an. Trotzdem bleibt der 59-jährige Interimsstaatschef optimistisch. „Libyen wird einen Wohlstand erleben wie noch nie zuvor. Dazu aber brauchen wir die Hilfe und Unterstützung des ganzen Volkes.“

Auf einen Blick

Libyens Übergangsrat hat zusehends Probleme, die zahlreichen Milizen unter Kontrolle zu bekommen. Deren Eingliederung in eine neue Armee gestaltet sich schwierig, immer öfter kommt es zu Schießereien zwischen rivalisierenden Gruppen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.01.2012)

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