Der Wanderprediger der Demokratie wird auch als Präsident ein unbequemer Mahner bleiben. Schon seit 20 Jahren tingelt Joachim Gauck durch deutsche Lande. Die Lebensgeschichte des Revolutionspastors imponiert.
Berlin. Nichts wird sich ändern, und doch wird alles anders. Schon seit 20 Jahren tingelt Joachim Gauck durch deutsche Lande, als Wanderprediger in Sachen Freiheit und Demokratie. Die Lebensgeschichte des Revolutionspastors von Mecklenburg imponiert und rührt allerorten, vom Staatstheater bis in die kleinste Mehrzweckhalle. Denn wenn der frühere DDR-Bürgerrechtler von seiner Vergangenheit spricht, rüttelt er die Erinnerung daran wach, was für ein kostbares Gut die Freiheit ist. Und der 72-Jährige kämpft dagegen an, dass junge Menschen vor lauter Bequemlichkeit nicht mehr mitmachen wollen bei der gemeinsamen Gestaltung ihrer Lebenswelt.
Man hört ihm gerne zu, nicht nur, weil er ein begnadeter Redner ist. Man glaubt ihm. Was andere in Sonntagsreden predigen, wirkt bei ihm authentisch. Das Pathos ist gezähmt, der Pastor hat schon 1990 abgedankt. Seine säkulare Mission will und wird Gauck weiter erfüllen. Nur mit einem Beamtentross an seiner Seite, mit einer Limousine und unter dem Blitzlichtgewitter der Reporter. Denn am 18. März werden ihn Parlament und Länderdelegierte, im zweiten Anlauf und mit großer Mehrheit, zum elften Präsidenten der Bundesrepublik wählen. Darauf hat sich die Regierung mit SPD und Grünen geeinigt.
Es ist der späte Höhepunkt eines entbehrungsreichen Lebens. Als er elf ist, nehmen ihm die russischen Besatzungstruppen den Vater weg und verschleppen ihn wegen „antisowjetischer Hetze“ nach Sibirien. „Jochen“ wird vorschnell erwachsen, und das heißt für ihn: erkennen, dass er in einem Unrechtsstaat lebt. Er macht nicht mit, nicht bei den Jungen Pionieren und nicht bei der Freien Deutschen Jugend. Damit bleibt ihm sein Traumberuf Journalist verwehrt. Stattdessen wird er Pastor.
DDR eine „tägliche Beleidigung“
Als Jugendpfarrer in der Rostocker Vorstadt macht er sich dem SED-Regime schnell verdächtig. Die Diktatur empfindet er als „tägliche Beleidigung“. Aber als guter Protestant will er dort leben, wo Gott ihn hingestellt hat. So sucht und findet er das richtige Leben im falschen. Die Rückzugsorte der Regimegegner werden seine Heimat, ohne dass er offen am Widerstand teilnimmt. In der friedlichen Revolution von 1989 schließt er sich dem „Neuen Forum“ an und wird zum Sprecher der Demokratiebewegung seiner Heimatstadt. Die Marienkirche kann bei seinen Donnerstagspredigten die Massen bald nicht mehr fassen. Nach der Wende wird Gauck als „Sonderbeauftrager für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes“ zur zentralen Figur für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte. Zehn Jahre lang meistert er die heikle Aufgabe so bravourös, dass seine Truppe bald nur noch als „Gauck-Behörde“ bekannt ist. Die Politiker der SED-Nachfolgeparteien aber kritisieren ihn als unerbittlichen Inquisitor. Bis heute: Die „Linke“ wird als einzige Fraktion nicht für Gauck als Präsidenten stimmen.
2010 schicken ihn SPD und Grüne als Gegenkandidaten gegen Christian Wulff ins Rennen um den Bundespräsidenten. Dass er es trotz großer Unterstützung in der Bevölkerung knapp nicht schafft, trifft ihn härter, als er zugibt. Nun kann der „Präsident der Herzen“ doch noch ins Bellevue einziehen.
Ein Freund der freien Wirtschaft
Die Politiker haben sich damit einen unbequemen Mahner an ihre Spitze geholt. Gauck ist ein viel zu politischer Kopf, um sich nicht einzumischen. Er wird sich mit den Sozialdemokraten und Grünen anlegen, wenn sie mit Systemkritik kokettieren. Denn über den Kapitalismus, wohlgemerkt in seiner „gezähmten“ Form wie in Deutschland oder Skandinavien, lässt er nichts kommen. Wer aus der Wirtschaft die Freiheit herausnimmt, werde scheitern. Deshalb hält Gauck auch die Attacken der Occupy-Bewegung auf die Finanzmärkte für „unsäglich albern“. Schröders Hartz IV-Reformen begrüßt er hingegen: „Wir dürfen die Menschen nicht durch Versorgung ruhigstellen.“ Selbst einigen der Thesen von Tilo Sarrazin zur misslungenen Integration von Migranten kann er etwas abgewinnen – genug Stoff für Kontroversen also.
Doch auch mit den Christdemokraten dürfte sich Gauck bald anlegen, wenn sie in der Abgehobenheit der Macht auf den Kontakt zum Bürger vergessen, und mit den Liberalen, wenn sie den Markt über die Menschen stellen. Der designierte Präsident sieht sich als Vermittler zwischen Wählern und Politikern. Die mag er, wie der Großteil des Wahlvolks, für schwach halten. Aber gerade deshalb nimmt er sie in die Pflicht, für Freiheit und Fortschritt einzustehen: „Es schwächt die Schwachen, wenn wir nichts mehr von ihnen erwarten.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2012)