Ungarn: Justizreform "widerspricht europäischen Standards"

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Symbolbild(c) AP (BELA SZANDELSZKY)
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Rechtsexperten des Europarats sehen in aktuellem Bericht die Unabhängigkeit der ungarischen Justiz bedroht - und liefern so Argumente für ein Vertragsverletzungsverfahren der EU. Für Budapest wird es immer enger.

Wien/Strassburg/Budapest. somWien/Strassburg/Budapest. Bezüglich eines möglichen Vertragsverletzungsverfahrens der Europäischen Union wird es eng für Ungarn – nun droht eine EU-Klage wegen der umstrittenen Reform im Justizbereich. Die EU stehe „wenige Zentimeter vor Einschaltung des Europäischen Gerichtshofs“, hat bereits vergangene Woche die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Viviane Redding, in einem Interview erklärt.

Ein aktueller Bericht eines Expertengremiums des Europarats, der der „Presse“ vorliegt, dürfte die skeptischen Stimmen in Brüssel nicht zum Verstummen bringen. Im Gegenteil: In dem Papier übt die „Venediger Kommission“ heftige Kritik an der ungarischen Justizreform. „Im Widerspruch zu europäischen Standards“ stehe das Gesetzespaket, befinden die internationalen Berichterstatter in ihrem Rapport. „Die Reform in ihrer Gesamtheit bedroht die Unabhängigkeit der Justiz.“ Sie schaffe ein „einzigartiges System der Administration der Justiz, die in keinem anderen europäischen Land existiert“.

Harsche Worte von Juristen

Harsche Worte – dabei gilt dieses Gremium des in Straßburg ansässigen Europarats, das (auf Anfrage) Gesetze in den 47 Mitgliedstaaten auf ihre Demokratietauglichkeit und Berücksichtigung der Europäischen Menschenrechtskonvention überprüft, als unabhängiges Gremium von sachkundigen Juristen. Auch die EU berücksichtigt bei ihrer Beurteilung – in diesem Fall die mögliche Einleitung einer Klage gegen ein Mitgliedsland – die Erkenntnisse der Kommission.

Kritisiert wird von den Experten einerseits das Pensionsalter der Richter, das von 70 auf 62 Jahre gesenkt wurde. 274 Richter würden so bis Jahresende in die Pension befördert. Kritiker argwöhnen, dass dies ein politischer Schachzug der Regierung von Premier Viktor Orbán sei, um sich missliebiger Juristen zu entledigen.

Zweitens steht die Schaffung eines Obersten Justizrats (eine Art Justiz-Superbehörde neben dem Justizministerium) unter Kritik. Dieser Rat, dessen Präsident vom Parlament für eine Amtszeit von neun Jahren gewählt wird, konzentriere zu viel Macht in seiner Hand und entziehe sich der Kontrolle durch andere Behörden. Besonders problematisch: Der Präsident des Justizrates darf Juristen gegen ihren Willen an ein anderes Gericht beordern und Prozesse von einem Gericht an ein anderes weitergeben.

Konsultationen in Budapest

Am Mittwoch trifft Europarats-Generalsekretär Thorbjorn Jagland in Budapest zu Gesprächen mit der Regierung zusammen. Viel Zeit für Änderungen bleibt Ungarn nicht mehr: Lenkt das Land nicht ein, könnte die EU-Klage bereits Anfang April eingeleitet werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.03.2012)

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