Wer Ägyptens neuer Staatschef wird, ist völlig offen. Sicher scheint nur eines: Er wird der erste sein, den die Bürger wieder abwählen können. 50 Millionen Wähler wurden zur ersten freien Wahl aufgerufen.
Geduldig stehen die Menschen in der Kairoer Mittagssonne vor der Mädchenschule im Viertel Abagiya. Es ist eines von 13.000 Wahllokalen. 50 Millionen Wähler sind erstmals in der Geschichte des Landes aufgerufen, in einer freien Wahl ihren Präsidenten zu bestimmen. „Ich bin glücklich, hier zu stehen, mit dem Gefühl mit meiner Stimme für mein Land Geschichte zu schreiben. Das ist etwas, was ich meinen Enkeln erzählen werde“, sagt die Apothekerin Soheir Mustafa, die in der Frauenschlange wartet.
Aus dem Wahllokal schreitet gerade Sabah Tolba, im traditionellen schwarzen Umhang der ägyptischen Bäuerinnen. Sie ist vor Kurzem vom Land in die Stadt gezogen: „Es gab viele Diskussionen zwischen mir, meinem Ehemann und meinen vier Kindern. Wir haben uns sogar gestritten, wer wen wählt“, erzählt sie. Sie hat ihre Stimme Ahmed Shafik, dem letzten Premier Hosni Mubaraks, gegeben, weil der etwas von Politik verstehe, erklärt sie. Ihr Ehemann habe gesagt, der sei doch vom alten Regime, er werde den ehemaligen Muslimbruder Abdel Monem Abul Futuh wählen: „Wenn du so wählst, dann kenne ich dich nicht mehr“, habe ihr Ehemann gedroht. Sabah lacht: „Nach den Wahlen werden wir uns wieder versöhnen oder im Zorn bleiben. Das ist gelebte Familiendemokratie.“
„Bin stolz auf mein Volk“
Der Ölingenieur Ihab Sayyad ist „stolz auf sein Volk und den heutigen Tag“. Selbst Analphabeten, die nicht ihren Namen schreiben können, seien gekommen, weil sie wüssten, dass ihre Stimme zähle. Auch er hat Abul Futuh gewählt, der letztes Jahr aus der Muslimbruderschaft ausgeschlossen worden war, weil er sich als Präsidentschaftskandidat selbstständig gemacht hat. Abul Futuh sei moderat, ein Zivilist und nicht polarisierend: „Er ist gebildet und weiß, wie man das Land reformiert und wieder auf Vordermann bringen kann“, rechtfertigt er seine Wahl.
„Das Ganze muss man als Prozess betrachten“, sagt der Politologe Baschir Abdel Fatah vom al-Ahram-Zentrum für Strategische Studien. Der demokratische Weg sei lang und bedürfe der Praxis, politischer Kultur und effektiver Institutionen: „Wir befinden uns gerade einmal am Anfang dieser Straße“, lautet sein Urteil.
Der Menschenrechtler Gasser Abdel Razek fasst das in etwas andere Worte. Nicht nur, dass er den nächsten Präsidenten in vier Jahren wieder abwählen könne. „Heute“, sagt er, „wähle ich begeistert einen Präsidenten, von dem ich schon jetzt weiß, dass ich bereits nächste Woche auf dem Tahrir-Platz gegen ihn für meine Rechte demonstrieren werde.“
Zur Person
Gilles Kepel (56) lehrt an der Pariser Elite-Uni Sciences Po und gehört zu den bekanntesten französischen Experten für den Nahen und Mittleren Osten. Der ausgewiesene Kenner des politischen Islam dreht derzeit einen Film über den Arabischen Frühling.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2012)