Ägypten: „Das Militär hat unser Vertrauen missbraucht“

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Auf dem Tahrir-Platz in Kairo versammelten sich am Freitag Tausende, um gegen die Generäle zu protestieren. Die Wahlbehörde versprach, nun am Sonntag den Sieger der Präsidentenwahl bekannt zu geben.

Kairo. Eine rauchende Pyramide, die droht wie ein Vulkan auszubrechen: Das neue Cover des Magazins „The Economist“ hat bei den Ägyptern offensichtlich einen Nerv getroffen. Anders lässt es sich nicht erklären, dass die Titelseite schon auf Facebook und Twitter die Runde machte, bevor das Magazin an den Zeitungsständen in Kairo eingetroffen war. Denn das Gefühl, auf einem brodelnden Vulkan zu sitzen, ist weitverbreitet im Land am Nil. Fünf Tage nach Schließung der Wahllokale hat man die Ergebnisse der Präsidentenstichwahl immer noch nicht verkündet.

Der oberste Militärrat hatte vor ein paar Tagen eine Übergangsverfassung verabschiedet, in der er seine eigene Unantastbarkeit festschreibt und die Macht des künftigen Präsidenten aushöhlt. Mit der Auflösung des Parlaments fiel auch noch die Kompetenz, die Gesetze zu schreiben, an die Militärs. Gleichzeitig fragen sich alle, wer denn nun nächster Präsident sein wird: der Muslimbruder Mohammed Mursi oder Mubaraks letzter Premier, Ahmed Shafik? Die Tageszeitung „al-Ahram“ hatte auf ihrer Website vor ein paar Tagen ein mehrere hundert Seiten langes Dokument veröffentlicht, in dem die Ergebnisse aus allen Wahllokalen mit den Unterschriften der beaufsichtigenden Richter zu sehen sind und die zeigen, dass Muslimbruder Mursi mit 900.000 Stimmen vorne liegt. Doch die oberste Wahlkommission schiebt die Verkündung der offiziellen Ergebnisse immer wieder auf. Die Einwände der Kandidaten müssten geprüft, manche Bezirke neu ausgezählt werden, argumentiert sie und kündigte an, am Sonntag das Endergebnis zu veröffentlichen.

Shafik erklärte, er sei sich sicher, gewonnen zu haben. Sein Lager halte sich aber derzeit zurück, um im Land für nicht noch mehr Instabilität zu sorgen. Ein Fingerzeig auf seinen Rivalen Mursi, der sich seit Tagen auf dem Tahrir-Platz als Sieger feiern lässt. Die anfänglichen Freudenfeiern, die wohl auch als Präventivmaßnahme gedacht waren, sich den Sieg nicht mehr nehmen zu lassen, wurden in den vergangenen Tagen mehr und mehr von der Sorge abgelöst, dass genau das passieren könnte. Am Freitag hatten Muslimbrüder, Salafisten, aber auch die „6.April“-Bewegung und linke Gruppierungen zu einer weiteren Großdemonstration auf dem Tahrir aufgerufen. Sie forderten den Militärrat auf, die von ihm verkündete Übergangsverfassung zurückzunehmen und das Parlament wieder einzusetzen. Zudem verlangten die Demonstranten, ein Dekret aufzuheben, das dem Militär das Recht gibt, Zivilisten zu verhaften.

Maßgeschneiderte Verfassung

„Wir leben wie unter Besatzung des Militärrates. Es ist eine Vergewaltigung unserer Freiheiten. Eine Konterrevolution ist im Gange“, glaubt die Kinderärztin Salma Abdelaziz, die auf dem Tahrir protestiert. „Wir hatten den Militärs leider vertraut, aber sie missbrauchten dieses Vertrauen.“ Für die Kinderärztin in ihrer modischen Kleidung mit rosa Kopftuch geht es dem Militärrat vor allem darum, an der Macht zu bleiben, um nicht für das, was sie bisher getan haben, zur Verantwortung gezogen zu werden. „Das garantiert sich der Militärrat, indem er dem neuen Präsidenten keine Machtbefugnisse gibt, und indem er sich eine Verfassung nach seinen Bedürfnissen maßschneidert.“

Auch wenn die Kinderärztin nichts mit den Muslimbrüdern auf dem Kopftuch hat, hat sie Angst vor einem Szenario, in dem die Militärs den Muslimbrüdern den Wahlsieg absprechen. „Es stimmt, die Muslimbrüder haben uns Revolutionäre seit dem Sturz Mubaraks immer wieder im Stich gelassen. Trotzdem dürfen wir sie heute nicht hängen lassen“, sagt sie. „Denn wenn wir das machen, dann geben wir unser Land, unsere Rechte und unsere Forderungen auf. Es ist jetzt im Interesse der Ägypter, ob Muslimbruder, Liberaler oder Linker, sich auf dem Tahrir zu versammeln.“

„Der Militärrat verkauft uns Ägypter für blöd“, sagt Handy-Shop-Besitzer Bassem Adel. „Das Land wurde in eine verwirrende Diskussion gestürzt: Wer hat die Wahl gewonnen: Shafik oder Mursi? In Wahrheit ist der Militärrat der Präsident.“ Muslimbruder Mursi versucht, neue Koalitionen zu bilden. Er versprach, die jungen Revolutionäre des Tahrir in einer Regierung einzubinden. Am Treffen mit Mursi nahm auch der prominente Internet-Aktivist Wael Ghoneim teil.

Drohung des Militärrates

Der Militärrat macht deutlich, dass er keinen Widerspruch duldet. Zehntausende hatten sich trotz der glühenden Sommerhitze auf dem Tahrir versammelt, da gaben die Generäle ihre neuste Erklärung heraus. Darin verurteilten sie die Vorveröffentlichung angeblicher Wahlergebnisse durch die Muslimbruderschaft als einen der Hauptgründe für die gegenwärtige Polarisierung. Verteidigt wird auch die Übergangsverfassung und die Auflösung des Parlaments. Einher geht die Erklärung mit der Drohung, das Militär werde mit Gewalt öffentliches Eigentum verteidigen. In der Konfrontation mit der Muslimbruderschaft gibt sich die Armee kompromisslos. Die Muslimbruderschaft muss sich noch entscheiden, ob sie sich auf diese Konfrontation tatsächlich einlassen soll. Tut sie das, droht Ägypten ein algerisches Szenario.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2012)

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