Auf der Spur eines Massakers: Was geschah in Houla?

Spur eines Massakers geschah
Spur eines Massakers geschahDie Amateuraufnahme soll das Massaker in Houla zeigen(c) AP
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Ende Mai wurde in der syrischen Stadt Houla ein Massaker an Zivilisten verübt. Regierungstreue Milizen stünden hinter den Angriffen, hieß es. Augenzeugen erzählen eine andere Version der Vorfälle.

Von Aleppo, der größten im Norden Syriens gelegenen Stadt, sind es 187 Kilometer bis nach Homs, dem Herzland des Aufstands gegen Präsident Bashar al-Assad. Der Bus fährt auf die Autobahn, die den Norden mit dem Süden des Landes verbindet und vielfach durch umkämpfte Gebiete führt. Das Idyll von grasenden Schafherden und fahrenden Mähdreschern auf den Feldern wird alle fünfzehn Kilometer von Militärposten unterbrochen: improvisierten Stellungen in meist alten, heruntergekommenen Gebäuden, hoch mit Sandsäcken verbarrikadiert. Links und rechts davon postiert jeweils ein Panzer. Nach über einer Stunde Fahrt kommt plötzlich Bewegung in die dösenden Passagiere. Die Stadt Hama, die zentrale Konfliktzone Syriens: unübersehbar durch die zerstörten Gebäude und die unzähligen Einschusslöcher in den Wänden. Jederzeit kann man hier in ein Feuergefecht zwischen syrischer Armee und Rebellen geraten. Auf beiden Seiten der Autobahn befinden sich vorwiegend sunnitische Dörfer und Kleinstädte, die von der „Freien Syrischen Armee“ (FSA) kontrolliert werden. Von dort starten sie täglich zu ihren Angriffe.

„Das ist Syrien“, meint ein junger Student auf dem Fensterplatz im Bus lachend, und man fragt sich, woher er diesen Humor noch nimmt. Der mittlerweile 16 Monate dauernde Aufstand gegen Präsident Bashar al-Assad hat über 15.000 Menschen das Leben gekostet, und ein Ende des Blutvergießens ist noch lang nicht abzusehen. „Der Präsident ist doch total verrückt“, meint ein anderer junger Mann, der mit Bauwerkzeugen in Damaskus handelt. „Er soll verschwinden und uns endlich eine Demokratie aufbauen lassen.“ Eine Kritik in aller Öffentlichkeit, die ihn sofort ins Gefängnis bringen könnte. „Wäre jemand vom Geheimdienst hier, würde man mich verhaften“, sagt der 32-Jährige selbst, als wäre es ihm völlig gleichgültig. Die Rebellion, die mit keinen noch so brutalen Mitteln des Regimes niederzuschlagen ist, gibt ihm offensichtlich den Mut dazu.

Nervöse Soldaten. Die Stadt Homs ist von Regierungstruppen hermetisch abgeriegelt. Die Soldaten am Checkpoint des Ortseingangs sind nervös und gestresst. „Wir haben aufgehört zu zählen, wie oft wir schon angegriffen wurden“, sagt ein junger Wehrdienstleistender mit schusssicherer Weste, Kalaschnikow und einer Zigarette in der Hand. In der Sommerhitze läuft ihm der Schweiß über das Gesicht.

Vor zwei Wochen begann die Offensive der Rebellen, um Baba Amr zurückzuerobern, das sie im März hatten aufgeben müssen. Es ist jener Stadtteil von Homs, der weltweit zum Synonym für die Grausamkeit des syrischen Regimes wurde. Unter dem Beschuss durch Regierungstruppen starben dort viele hunderte Zivilisten und auch die zwei Journalisten Marie Colvin und Remi Ochlik.

Nachdem Assad das zerstörte Baba Amr besucht hat, ist es für die FSA ein symbolträchtiger Ort, den es wieder einzunehmen gilt. Aber viel wichtiger ist seine strategische Bedeutung. Das am südlichen Stadtrand von Homs gelegene Viertel ist eine entscheidende Basis und ein Verbindungsweg zu den von der FSA besetzten umliegenden Gebieten. Eine Nachschubroute für Kämpfer, Proviant und Waffen. Eine Route, die bis in den nahen Libanon weiterreicht und für die die Stadt Koser eine Schlüsselrolle einnimmt. Sie liegt 40 Kilometer südlich von Homs und etwa 20 Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt. In der Nähe dieser Kleinstadt gibt es Höhlen, die bis in den Libanon nach Wadi Khaled führen. Durch diese unterirdischen Gänge schmuggelte man früher Zigaretten, Alkohol, Drogen und Luxusgüter aus dem Libanon. Heute sind es Waffen und Kämpfer für die FSA.

Das Thema der Stadt Koser eröffnet allerdings auch ein düsteres Kapitel der FSA: Nicolas Khoury (Name geändert) erinnert sich an den 12. Februar dieses Jahres, als wäre es gestern gewesen. An diesem Sonntagmorgen klopfte es mehrmals fest gegen seine Haustür. Als er öffnete, sah er vier bewaffnete Männer vor sich. Zwei von ihnen waren maskiert. Unter ihren Skimützen ragten lange Bärte heraus. „Für uns und vor allem für dich ist es besser, wenn du verschwindest“, sagten sie Khoury. „Morgen möchten wir dich hier nicht mehr sehen.“ Er und seine Familie mussten die Koffer packen. Das gleiche Schicksal erlitten alle anderen 12.000 Christen, die bisher völlig friedlich mit der mehr als 30.000 Menschen zählenden sunnitischen Bevölkerung in dem Ort zusammengelebt hatten. Wer nicht gehen wollte und sich weigerte seine Kinder in die FSA zu schicken, wurde erschossen. 27 Menschen kamen so ums Leben. „Ich kannte die zwei ohne Maske seit vielen Jahren“, erzählt Khoury. „Sie waren meine Freunde.“

Der 63-Jährige macht für die Vertreibung radikale Islamisten verantwortlich. „Ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen. Pakistaner, Libyer, Tunesier und auch Libanesen. Sie nennen Osama bin Laden ihren Scheich.“ Khoury wohnt seit seiner Vertreibung im Kloster des heiligen Jakob in Kara, 90 Kilometer von Damaskus entfernt. Es ist ein Zufluchtsort für Flüchtlinge aller Glaubensrichtungen und gleichzeitig ein Sammelbecken für Augenzeugenberichte über die Grausamkeiten der Rebellen: Ein Taxifahrer, der manchmal reguläre Soldaten von den Checkpoints nach Hause bringt, wird auf offener Straße als Kollaborateur erschossen. Ein Priester wird überfallen, und man ritzt ihm mit dem Messer ein Kreuz in die Kopfhaut. Ein christlicher Gemüsehändler bekommt einen fingierten Anruf, Obst abzuholen, und wird dann in seinem Auto auf offener Straße getötet. Es gibt eine lange Liste von Personen, die entführt und bis heute spurlos verschwunden sind.

Die Christen haben Angst um ihr Leben, Angst, ihre Heimat Syrien zu verlieren, in der sie seit Generationen zu Hause sind. Im idyllischen Kloster, einem liebevoll restaurierten Steinbau mit Gewölben und Rundbögen, haben sich die Menschen für den Ernstfall gerüstet. In ihrem Wehrturm, der noch aus römischer Zeit stammt, haben sie Sandsäcke bereitgelegt, um die Türen von innen verbarrikadieren zu können. Die Schwestern und Brüder befürchten einen Überfall radikaler Islamisten.
Angriffe auf Kirchen. Die Verbrechen an der christlichen Bevölkerung in der Region Homs lassen sich nicht einfach dadurch erklären, dass sie als Befürworter des Assad-Regimes gelten. Die Taten sind keine Einzelfälle und lassen eine Systematik erkennen, die auf eine extreme islamistische Agenda hinweist. Begonnen haben sie in Homs, mit der Besetzung durch die FSA im Dezember 2011. Kirchen wurden verwüstet, die Christen zuerst zu Zehntausenden vertrieben, später als menschliche Schutzschilde benutzt. Priester berichteten darüber.

Innerhalb des von der FSA in Homs damals kontrollierten Gebiets tauchten wiederholt maskierte Trupps auf. Ein sunnitischer Zeuge aus Homs will beobachtet haben, wie eine bewaffnete Gruppe dieser Maskierten einen Bus stoppte. „Die Insassen wurden nach Religion in zwei Gruppen geteilt. Auf die eine Seite Sunniten, auf die andere Seite Alawiten.“ Danach habe man den neun Alawiten den Kopf abgeschnitten. Ein Mordritual, das normalerweise nur extremistische Islamisten anwenden.

Im Kloster von Kara ist man besonders aufgebracht, wenn es um das Massaker von Houla geht, das sich eigentlich in Taldau, einem vorgelagerten Dorf der Stadt, ereignete. Dort wurden am 25. Mai 108 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, getötet. „Wir wussten als Allererste, dass das Massaker nicht von der syrischen Armee begangen wurde“, versichert Schwester Agnès-Mariam. Das Kloster war am gleichen Tag noch von einem Bekannten aus dem Nachbardorf informiert worden, was er beobachtet hatte.

Nun bekräftigte er noch einmal seine Version der Ereignisse und beschuldigt die Rebellen der Täterschaft. Busse der Shabiha, der zivilen Schlägermilizen des Regimes, die um 17 Uhr im Dorf angekommen sind, habe es nicht geben. „Die Kämpfe begannen um die Mittagszeit, als die Rebellen aus Ar Rastan kommend die Checkpoints der syrischen Armee angriffen“, meint der Mann mittleren Alters, der ein Sunnit ist. Gezielt seien dann Häuser einer Familie ausgewählt worden, die sich geweigert hatte, die FSA zu unterstützen. Zudem die Angehörigen eines Parlamentsabgeordneten, der auf seine Kandidatur bei den Wahlen Anfang Mai bestanden und einen Boykott verweigert hatte. „Alle Opfer sind Sunniten“, behauptet er. Die Rebellen hätten auch im nationalen Krankenhaus getötet und dann alle Leichen in die Moschee gebracht. „Im Internet gab es ein Video der Rebellen, wie sie die Leichen zusammentragen. Die Leichen waren in Decken des Gesundheitsministeriums eingehüllt.“ Mittlerweile sei dieses Video vom Netz genommen worden.

In Taldau ist die Situation immer noch so wie am 25. Mai. Das Dorf ist in der Hand der Rebellen und von syrischen Truppen umstellt, die sich nicht hineinwagen. Täglich gibt es Angriffe.

Schüsse und nächtliche Explosionen. Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass ein Trupp von fast 300 Männern der Shabiha in den Ort gelangen könnte. Seit Dezember würde die syrische Armee gern Taldau zurückerobern und hat es bisher nicht geschafft. Die Ebene ist so flach und es gibt kaum Deckung, dass ein Anmarsch unbemerkt vor sich gehen könnte. Mit Maschinengewehren, Panzerabwehrraketen und Mörsern kann man sehr leicht auch größere Trupps stoppen. Gerade, wenn sie nur mit Macheten und Knüppeln bewaffnet sind. Und die Zeugen? Laut Aussagen der Überlebenden, die HRW nach dem Massaker befragte, waren es Männer in Uniform. Und die tragen die Rebellen wie auch die Armee.

„Es gibt noch mehr Leute in Houla, die wissen, was passierte“, sagt der Augenzeuge im Kloster von Kara. „Wenn sie jetzt den Mund aufmachen, können sie nur die Rebellenversion bestätigen. Alles andere ist ihr sicherer Tod.“ Erst vor einer Woche soll in Houla ein Lehrer als vermeintlicher Verräter aufgehängt und danach vom Balkon aus dem dritten Stock geworfen worden sein.

Eine endgültige Klärung des Massakers von Houla kann nur eine Untersuchung bringen. Aber dazu muss der Krieg zu Ende sein, was nicht abzusehen ist. Den Brüdern und Schwestern im Kloster von Kara bleibt nichts anderes übrig, als sich mit dem Lärm der nächtlichen Schüsse abzufinden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.06.2012)

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