Anschluss: Vom Opfer- zum Tätermythos

Standbild aus der ORF-Dokumentation: 'Der Untergang Österreichs'
Standbild aus der ORF-Dokumentation: 'Der Untergang Österreichs'(c) ORF
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Nach wie vor steht beim „Anschluss“-Gedenken Engelbert Dollfuß im Mittelpunkt. Weil er der Schlüssel zum „Tätermythos“ ist.

Vor 20 Jahren, im „Bedenkjahr“, ging es hoch her. Im Gefolge der Waldheim-Affäre kam die „Vergangenheitsbewältigung“ in Mode, jene Zurichtung der Geschichte für den aktuellen politischen Gebrauch, die später zur „Vergangenheitspolitik“ mutierte.

Die Vertreter der „68er“-Generation hatten die Macht an den Universitäten übernommen. So konnten sie den Zorn gegen die Vätergeneration, der schon das Hauptmotiv ihrer austriakischen Gartenzwergrevolte gewesen war, im würdigen Gewand der Geisteswissenschaften kultivieren.

Eines der Hauptanliegen war die Zerstörung des „Opfermythos“, der als Kernproblem österreichischer Geschichtspolitik identifiziert wurde. Zurecht: Die Rede von Österreich als „erstem Opfer“ in der Moskauer Deklaration wurde von der wiedererrichteten Republik dazu benutzt, die legitimen Ansprüche der tatsächlichen Opfer zu verkürzen und die moralische Last der Täter und Mitläufer auf ungesunde Weise zu erleichtern. Seither herrscht common sense zum Thema „Anschluss“: Der Staat Österreich war „Opfer“, viele Österreicher waren Täter. That's it.

Bald zeigte sich auch auf dem Feld der Geschichtspolitik, dass „Entmythologisierung“ niemals die aufklärerische Überwindung eines irrationalen Ideengebäudes bedeutet, sondern das Ersetzen eines politisch nutzlos gewordenen Mythos durch einen politisch erwünschten oder, wie das heute heißt, korrekten. Man schritt also zur Produktion eines „Tätermythos“: Er erzählt davon, dass der Ständestaat als Wegbereiter des Nationalsozialismus zu verstehen sei und die Österreicher also nicht dessen erste Opfer, sondern seine perfekten Exekutoren gewesen seien.

Der genialste Einfall der postmodernen Mythenbastler war die Figur von der „kollektiven Verdrängung“: Weil wir Österreicher unser tatsächliches Nazitum verdrängt haben, muss damit gerechnet werden, dass es jederzeit zurückkommt. Das ohnehin nicht schlecht bestückte Waffenarsenal des politischen Moralismus wurde auf diese Weise mit einer argumentativen Wasserstoffbombe vervollkommnet, und seine Verwalter waren bereit, sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu zünden. Zuletzt im Februar 2000, als die Regierungsbeteiligung der FPÖ zur lange erwarteten, um nicht zu sagen ersehnten Wiederkehr des Verdrängten erklärt wurde. Dass sie sich damit selbst in die Luft gesprengt haben, begreifen etliche Reserveoffiziere der Moralarmee bis heute nicht.

Dass in den österreichischen Debatten über den „Anschluss“ 1938 nach wie vor der 1934 ermordete Engelbert Dollfuß die Hauptrolle spielt, ist kein Zufall: Er ist der Schlüssel für das Funktionieren des Tätermythos. Nur durch das Herausstreichen des „Arbeitermörders“ und „ideologischen Nazivorläufers“ lässt sich der Umstand verschleiern, dass Dollfuß tatsächlich das erste Opfer des Nationalsozialismus war. Innerhalb der Linken dominierte, wenn auch aus anderen Motiven, die Anschlusssehnsucht. Der Widerstand des Ständestaatsregimes gegen Hitler passt nicht in ein Konzept, das von der prinzipiellen moralischen Überlegenheit der Linken ausgeht.


Die Versuche, den Ständestaat zu einer Art katholischen Naziideologie umzudeuten, wirken gerade heute besonders skurril. Die Gleichzeitigkeit von Großer Koalition und Sozialpartnerschaft ist ja eine Art Gutmenschenständestaat. Er basiert zwar nicht auf einem autoritären System, aber auf Bevormundung. Zwangsmitgliedschaften und Kollektivierungen aller Art stellen offenbar kein Problem dar, solange man sich unter den Profiteuren wähnt. Anders ist nicht zu erklären, dass gerade jene, die sich um Aufbau und Pflege des „Tätermythos“ Verdienste erworben haben, ein solches System verteidigen.

An historischen Einsichten wird das Gedenkjahr wenig bringen. Im günstigsten Fall markiert es den Anfang vom Ende der österreichischen Vergangenheitspolitik.

Imas

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.03.2008)


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