Machtzentrum ist in der Krise gewachsen

Europäischer Rat. Es ist das mächtigste, aber auch am wenigsten transparente EU-Organ.

Wien/Brüssel. Paolo Massimo Antici war der Erste. Der italienische Diplomat durfte an den EU-Gipfeltreffen teilnehmen und seine Kollegen aus den anderen Mitgliedstaaten vom Fortgang der Verhandlungen informieren. Die „Antici-Berichte“ sind legendär, waren sie doch der einzige Hinweis darauf, was im Saal gesprochen wurde.

Seit vielen Generationen von Brüsseler Diplomaten heißen diese Mitschriften aus dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs nach dem 2003 verstorbenen Italiener. Und nur selten in der Geschichte dieser mächtigsten aller EU-Gremien kam einer dieser Berichte an die Öffentlichkeit. Eine Ausnahme war 2001, als Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi dafür kämpfte, die EU-Lebensmittelagentur nach Italien zu holen. Er machte sich im Saal über die nordische Küche lustig und behauptete, dass die Finnen, die sich ebenfalls bewarben, „doch nicht einmal wissen, was Prosciutto ist“.

Das eigentliche Machtzentrum der EU, das Treffen der Staats- und Regierungschefs, ist das am wenigsten transparente Gremium der Union. Wenn im Brüsseler Justus-Lipsius-Gebäude der EU-Gipfel tagt, werden die Türen des Verhandlungssaals fest verschlossen. Niemand soll nachvollziehen können, welcher Politiker darin welchen Standpunkt vertritt. Verkündet wird das Ergebnis der Verhandlungen erst zum Ende des Treffens. Meist wird sogar abgesprochen, welche gemeinsame Botschaft nachher an die wartenden Medienvertreter übermittelt wird.

Der Europäische Rat ist seit dem Lissabon-Vertrag wie das Europaparlament oder die EU-Kommission ein „Organ“ der Europäischen Union. Eigentlich sollte das Gipfeltreffen aber nach dem neuen Vertrag so wie bisher lediglich die Grundzüge der gemeinsamen Politik festlegen. Die Zuständigkeit für den Beschluss konkreter Gesetze blieb beim Rat der EU (Regierungsvertreter) und dem Europaparlament. Doch in der Finanz- und Wirtschaftskrise hat der Europäische Rat ein rechtliches Eigenleben entwickelt. Gestützt auf ein ausgeweitetes Ratssekretariat, das dem neuen Ratspräsidenten Herman van Rompuy zuarbeitet, wurden eigene juristische Konstruktionen wie der Euro-Rettungsschirm ESM oder der Fiskalpakt entworfen und beschlossen.

Die Staats- und Regierungschefs haben das Krisenmanagement, wie es unter Diplomaten in Brüssel gern heißt, „aus Notwendigkeit“ an sich gerissen. Denn nur im Einklang der wichtigsten Politiker der Gemeinschaft sei es möglich gewesen, rasch und effizient zu handeln, so die Begründung. Dass die EU-Krisengipfel damit aber das demokratische Gefüge der EU durcheinanderbrachten, war den wenigsten bewusst. Bei den EU-Gipfeltreffen wurden zwischenstaatliche Vereinbarungen geschmiedet, die nicht in das Konstrukt ausbalancierter Macht zwischen Legislative, Exekutive und Judikative der EU passten. Die Rechte etwa des Europaparlaments oder des Europäischen Gerichtshofs wurden übergangen.

Konsenspolitik

Es entstand dadurch eine seltsame Form der Konsenspolitik. Während die meisten EU-Beschlüsse mittlerweile als Mehrheitsentscheidungen fallen, blieben die Staats- und Regierungschefs bei ihrem System der Einstimmigkeit. Das führte dazu, dass manche der Entscheidungen nicht mehr in allen, sondern nur noch in einzelnen Mitgliedstaaten umgesetzt wurden, wie beispielsweise der Fiskalpakt, der die Teilnehmerländer zur Umsetzung einer Schuldenbremse und weiterer haushaltstechnischer Regeln verpflichtete.

Nicht erst seit der Krise erlebt der Europäische Rat eine weitere demokratiepolitische Verzerrung. Denn seine Entscheidungen, die eigentlich im Kreis aller Staats- und Regierungschefs fallen sollten, werden von zwei Akteuren dominiert: vom französischen Staatspräsidenten und dem aktuellen Regierungschef in Deutschland.

2003 beispielsweise torpedierten Frankreichs Präsident Jacques Chirac und Deutschlands Kanzler Gerhard Schröder eine von Landwirtschaftskommissar Franz Fischler ausgearbeitete Agrarreform. Sie gaben die Linie einer fortgesetzten hohen Förderung vor und alle folgten ihr, weil ohne ihrer beider Zustimmung nichts in der EU ging.

In der aktuellen Finanz- und Schuldenkrise wurde diese Dominanz zumindest so lange fortgesetzt, als Nicolas Sarkozy im Elysée residierte und gemeinsam mit Angela Merkel ein Krisenpaket nach dem anderen vorbereitete. Erst mit dem neuen französischen Präsidenten François Hollande wurde die Vormachtstellung verändert. Da sich wenige Gemeinsamkeiten mit der deutschen Kanzlerin fanden, gab vor allem Berlin die Linie im Krisenmanagement vor.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.10.2013)

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