Türkei: 1,90 Meter Starrsinn mit Zuckerguss

(c) EPA (Ates Tumer)
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Ursula Plassnik plädierte in Ankara für eine maßgeschneiderte Türkei-Europa-Partnerschaft als Alternative zum Beitritt.

Ankara. Sie ist nicht unbedingt populär, aber man kennt sie in der Türkei. „1,90 Meter Starrsinn“ nannte sie eine türkische Zeitung einmal. Am Montag, bei einer Pressekonferenz in Ankara, verlieh ihr eine türkische Journalistin den Titel „Symbol des Widerstands gegen einen EU-Beitritt der Türkei“. Und Ursula Plassnik machte ihrem Ruf alle Ehre. Österreichs Außenministerin blieb dabei: Die EU-Verhandlungen sollten nicht automatisch zu einer Vollmitgliedschaft führen. „Die Türkei soll so nah wie irgendwie möglich an die EU herangeführt werden. Aber wir sollten unsere Fantasie erweitern und eine maßgeschneiderte Türkei-Europa-Gemeinschaft als Alternative aufbauen.“

Doch auch der türkische Außenminister Ali Babacan hielt Kurs. Ziel bleibe ein EU-Beitritt der Türkei, sagte er. Dabei solle man nicht an die Türkei der Gegenwart, sondern an die Türkei der Zukunft denken. Die Entwicklung der vergangenen fünf Jahre könne ein Maßstab für weitere Fortschritte sein, die in den nächsten fünf bis zehn Jahren noch zu erwarten seien. Für Babacan ist jedoch auch der Weg das Ziel. „Unabhängig vom Ergebnis profitiert die Türkei bereits vom Verhandlungsprozess mit der EU. Am Ende könnte ein Win-win-Situation stehen, die sowohl der Türkei als auch der EU nützt.“

Unter der gemäßigt islamischen Regierung von Recep Tayyip Erdogan hat die Türkei seit 2002 tatsächlich Teilerfolge bei der Modernisierung ihres politischen und wirtschaftlichen Systems erzielt. Der Reformeifer Erdogans erlahmte jedoch merklich, je stärker sich unter der Führung Frankreichs und Österreichs hinhaltender Widerstand in der EU formierte. Von 35 Verhandlungskapiteln ist erst eines abgeschlossen. Das geschah pikanterweise während der EU-Präsidentschaft Österreichs. Die acht wichtigsten Kapitel hat die EU blockiert, weil die Türkei sich weigert, ihre Häfen für griechisch-zypriotische Schiffe zu öffnen.

Neuer Reformwille

Seit jüngster Zeit sucht Ankara wieder nähere Tuchfühlung zur EU. Das hat damit zu tun, dass im März ein Staatsanwalt vor dem Verfassungsgericht ein Verbot der regierenden AKP-Partei beantragt hat und 70 führende AKP-Politiker, darunter Premier Erdogan und Präsident Gül, mit einem fünfjährigen Politikbann belegen will. AKP-Mitglied Babacan zeigte sich am Montag zuversichtlich, dass die „offene Gesellschaft“ der Türkei diesen „Test“ bestehen wird. Plassnik bemerkte zur Verfassungskrise, dass die Türkei gemeinsame Werte nicht nur annehmen, sondern auch umsetzen müsse. Derzeit sei die Türkei damit beschäftigt, ihre säkulare Identität zu klären.

Bei allen Gegensätzen in der Sache „EU-Beitritt“ bemühten sich Babacan und seine „liebe Freundin Ursula“ um einen freundlichen Ton. Ein Seminar, das sie am Montag in Ankara eröffneten, sollte dazu dienen, Kooperationsfelder vom Balkan über Zentralasien bis zum Nahen Osten zu finden. Mehrmals betonten beide die Bedeutung wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Derzeit ist Österreich mit rund 300 Unternehmen neuntgrößter Investor in der Türkei. Und dann gibt es da noch ein großes Thema, das die Türkei und Österreich zusammenschweißen soll: Nabucco. Auch über die geplante Gaspipeline sprachen Plassnik und Babacan.

Warum ausgerechnet in Österreich, mit seinen 180.000 türkischstämmigen Einwohnern, die Zustimmung zu einem EU-Beitritt der Türkei mit fünf Prozent europaweit am niedrigsten ist und ein Referendum über eine türkische Vollmitgliedschaft versprochen ist, erklärte Babacan so: „Manchmal driften Wirklichkeit und Wahrnehmung auseinander.“

LEXIKON

Verhandlungen. Österreich ist zwar neben Frankreich ein Land, das sich für eine Alternative zum Vollbeitritt der Türkei einsetzt. Die EU-Verhandlungen selbst werden von Österreich aber nicht behindert.

Stimmung. Laut Eurobarometer-Umfrage sind lediglich fünf Prozent der Österreicher für einen Beitritt der Türkei – weniger als in jedem anderen EU-Land.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.04.2008)

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