Europa auf der Kippe: Schicksalsabstimmung in Irland

(c) AP (Niall Carson)
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Die Iren entscheiden am Donnerstag über den EU-Vertrag. Die letzten Umfragen lassen ein Kopf-an-Kopf-Rennen erwarten. Das Ja- und das Nein-Lager haben nochmals alle Kräfte mobilisiert.

Es ist ein politischer Krimi: Der Ausgang der am Donnerstag stattfindenden Volksabstimmung über den neuen EU-Vertrag in Irland ist völlig offen. Letzte Umfragen zeigten Befürworter und Gegner des Vertrags fast gleichauf. Für die Europäische Union zeichnet sich eine knappe Schicksalsentscheidung ab. Denn je nach Ausgang wird die seit 2001 verhandelte Reform der EU-Institutionen umgesetzt oder für einige Zeit – vielleicht sogar für immer – verworfen.

Die renommierte Bertelsmann-Stiftung warnte in einer Studie offen vor einer „Katastrophe“ für die europäische Integration, sollte die irische Abstimmung mit einem Nein enden. Österreichs Außenministerin Ursula Plassnik sieht es entspannter: Ein Nein der Iren wäre kein „Super-Gau“.

Wird die EU-Reform abgelehnt, bleibt der Nizza-Vertrag die Grundlage der gemeinsamen Politik. Dieser Vertrag hat allerdings den Nachteil, dass er nicht auf 27 Mitgliedstaaten ausgelegt ist. Anpassungen wären in den nächsten Jahren jedenfalls notwendig.

Die Wahllokale sind am Donnerstag bis 22 Uhr Ortszeit geöffnet, die Auszählung beginnt erst am Freitag.

Die Befürworter

Wer sind sie?
Fast das ganze irische Establishment kämpft für ein Ja zum EU-Vertrag. Alle großen Parteien des Landes sind dabei. Diese Woche appellierten die Chefs der Parteien Fianna Fail (rechtsliberal), Fine Gael (christdemokratisch) und Labour gemeinsam für ein Ja. Sogar ein Teil der Grünen hat sich diesmal ins Ja-Lager eingereiht. Zuletzt schloss sich auch die Kirche an. Die Regierung hat nicht nur fünf Millionen Euro in ihre Kampagne investiert, sondern mit Zugeständnissen auch die Landwirtschaft und die Gewerkschaften ins Boot geholt. Eine vielleicht eher kontraproduktive Unterstützung kam von anderen EU-Regierungen, die vor einer Krise der gesamten Gemeinschaft bei einem Nein warnten.

Ihre Argumente:
Die Befürworter des EU-Vertrags wiesen mehrfach darauf hin, dass Irland von der EU-Mitgliedschaft bisher stark profitiert habe. Seit dem Beitritt flossen 30 Milliarden Euro an Förderungen ins Land. Um die Erfolgsgeschichte fortzusetzen, benötige es eine Weiterentwicklung der Union. „Gut für Irland, gut für Europa“ war der Slogan der Ja-Kampagne. In der gegenwärtigen Wirtschaftskrise brauche Irland Europa mehr denn je. Außerdem argumentieren die Befürworter, dass der Vertrags auf alle irischen Wünsche – wie etwa die Neutralität – Rücksicht nimmt. Der Lissabon-Vertrag sei ein Fortschritt, weil er die Union demokratischer mache. Er trage zum Funktionieren der erweiterten Union bei.

Die Folgen:
Der EU-Vertrag kann nach einem positiven Ausgang in Irland ohne größere Probleme in allen 27 Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Es gibt zwar noch Verfassungsklagen wie jene in Deutschland, die aber voraussichtlich die Umsetzung nicht mehr behindern werden. Die EU-Institutionen könnten also mit Verzögerung an die EU-Erweiterung angepasst werden. Das Irland-Referendum würde aber selbst bei einem knappen Ja einen Schatten hinterlassen. Denn der massive Auftritt von Regierung und Interessensgruppen ist für die wachsende Zahl der EU-Skeptiker ein weiterer Hinweis darauf, dass sich hier das Establishment über die wachsende Skepsis der Bevölkerung hinwegsetzt.

Die Gegner

Wer sind sie?
Die Gegner des EU-Vertrags sind ein Konglomerat aus kleineren rechten und linken Gruppen, die aus anderen EU-Ländern Hilfe erhalten. Die rechtsnationale Sinn Féin unterstützt wie bisher das Nein-Lager. Der 39-jährige Geschäftsmann Declan Ganley finanziert laut irischen Medienberichten mit einer Million Euro die Nein-Kampagne über das von ihm gegründete Institut „Libertas“. Auf der linken Seite hat sich neben einigen grünen Politikern auch Attac für ein Nein engagiert. Die globalisierungskritische Bewegung fordert mit Briefen die Iren auf, stellvertretend für andere EU-Bürger mit Nein zu stimmen. Österreichische und deutsche Attac-Aktivisten reisten zur Unterstützung des Nein-Lagers nach Irland.

Ihre Argumente:
Die Gegner des Lissabon-Vertrags führen mögliche Souveränitätsverluste ins Treffen. Sie warnen vor einer Aushöhlung der irischen Identität und der Neutralität. Die im Vertrag verankerte neue Machtaufteilung in den EU-Institutionen verringere den Einfluss der Insel. Die Grundrechtecharta wird wegen ihrer liberalen Formulierung als Angriff auf das Abtreibungsverbot interpretiert. Zudem fehle im Vertrag ein Hinweis auf Gott. Von linker Seite wird kritisiert, dass der neue EU-Vertrag die neoliberalen Tendenzen der Union nicht ausreichend beschränke. Er halte der mangelnden Transparenz und mangelnden Demokratie in den EU-Institutionen zu wenig entgegen und fördere eine militärische Zusammenarbeit.

Die Folgen:
Nach einer Ablehnung würde die Europäische Union in eine neue Krise mit offenem Ausgang schlittern. Entweder wird dann der Vertrag als Ganzes zurückgezogen, oder es wird eine Sonderlösung für Irland ausgehandelt samt Neuauflage der Volksabstimmung, oder Irland erhält einen Sonderstatus in der EU, der auf eine Mitgliedschaft zweiter Klasse hinausläuft. Ein Nein in Irland könnte längerfristig auf ein Kerneuropa hinauslaufen: Einige EU-Länder würden etwa ihre Kooperation bei innerer Sicherheit, Justiz oder auch Militärpolitik vertiefen. Auf Länder, die damit Probleme haben, müssten sie keine Rücksicht mehr nehmen. Ein Austritt oder Ausschluss Irlands aus der EU ist hingegen nicht zu erwarten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2008)

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