„Sollten uns Föderalismus zum Ziel setzen“

Interview. Zwei Studenten der Europa-Universität Brügge, Marie Buchet und Marko Čeperković, über Ideen für eine neue EU.

Die Presse: Die Zukunft der Europäischen Union ist Gegenstand emotionaler Debatten auf dem gesamten Kontinent. Wären Sie der neue Kommissionspräsident und hätten ein Mandat für, sagen wir, zehn Jahre, was würden Sie zuallererst tun und was wäre Ihre langfristige Strategie?

Marko Čeperković: Meine kurzfristigen Ziele wären ganz klar Energiesicherheit und Migration. Es ist eine humanitäre Katastrophe, was derzeit im Mittelmeer passiert, da muss viel mehr getan werden. Auch sollte die Kommission in Fragen der internen Zuwanderung energischer auftreten und Politikern wie David Cameron klar machen, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit ein Grundpfeiler der europäischen Idee ist, der nicht zur Diskussion steht. Langfristig würde ich mich auf eine gemeinsame Wirtschaftspolitik der Union, Arbeitsmärkte und Sozialmarktreformen konzentrieren. Die Kommission ist seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon viel politischer; und in diesem Licht sollten wir ihr auch mehr Verantwortung übertragen.
Marie Buchet: Ich würde meinen Fokus auf die Umweltpolitik legen, langfristig aber auch auf eine weitere Politisierung der Kommission. Die EU braucht neue Zielsetzungen. Vor einiger Zeit war der Frieden das wichtigste Schlagwort, das wir im Zusammenhang mit einem Vereinten Europa in unseren Köpfen hatten. Jetzt brauchen wir etwas Neues, das die Menschen auf diesem Kontinent vereint.

Was könnte das sein?

Buchet: Solidarität – auch während schwerer Krisen, wie wir sie gerade erlebt haben.

Die Eurokrise hat ja den größten Geburtsfehler der Währungsunion – das Fehlen einer gemeinsamen Währungspolitik – zutage gebracht. Glauben Sie, dass wir in Wirtschafts- und Finanzfragen enger zusammenarbeiten sollten?

Čeperković: Es kann nur eine gemeinsame Antwort geben. Wenn wir etwa Auslandsinvestitionen generieren wollen und 28 verschiedene Botschaften aussenden, ist das sicher nicht zielführend. Die Kernbotschaft, um Vertrauen zu generieren, kann nur in Form einer Wirtschaftsunion erfolgen. Wir sollten finanz- und währungspolitische Überlegungen auch nicht trennen, denn sie gehören alle unter das Dach der Wirtschaftspolitik. Jedes Land sollte natürlich involviert sein, um Lösungen für ein solches Konzept zu präsentieren. Buchet: Ein Problem dürfte nur sein, dass nicht alle Mitgliedstaaten das gleiche Ziel verfolgen – schon gar nicht jene, die nicht Teil der Währungsunion sind.

Uneinigkeit herrscht nicht nur bei der Frage, ob die Wirtschaftspolitik vergemeinschaftet werden soll. Welche anderen Politikbereiche sollten Ihrer Meinung nach auf die europäische Ebene verlagert werden?

Čeperković: Die Union sollte der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten sozialen Nutzen bringen. Wenn wir uns dem Bürger von dieser Seite annähern, schaffen wir ein stärkeres Naheverhältnis.
Buchet: Die Vergemeinschaftung der Sozialpolitik sollte meiner Meinung nach sogar das erste Politikfeld sein, das wir bei Überlegungen zu einer tieferen Integration heranziehen sollten. Arbeits- und Gesundheitsfragen sollten auf europäischer Ebene gelöst werden.
Čeperković: Aber auch in Fragen der Außen- und Verteidigungspolitik müssen wir enger zusammenarbeiten als bisher. Wenn Europa im Rest der Welt gehört werden will, muss es mit einer Stimme sprechen. Auch der Europäische Auswärtige Dienst (EAD, Anm.)braucht mehr Machtbefugnisse.
Buchet: Das ist richtig – aber ich glaube trotzdem, dass wir uns zuerst auf die internen Probleme fokussieren sollten.

Gibt es Ihrer Meinung nach auch Politikbereiche, die – von Politikern wie Cameron gefordert – wieder zurück auf die nationale Ebene verlagert werden sollten?

Buchet: Nein, da fällt mir nichts ein.
Čeperković: Im Moment nicht. Jeder Integrationsschritt in der EU wurde sorgfältig diskutiert und auch durchdacht.

Wie könnte ein Europa der Zukunft institutionalisiert werden? Was halten Sie von der alten Idee der Vereinigten Staaten Europas?

Buchet: Wir sollten uns diese Art Föderalismus jedenfalls zum Ziel setzen, aber auch vorsichtig mit der Idee umgehen, weil die EU eben etwas anderes ist als ein Staat. Wenn es aber eine engere Kooperation in dieser Form gäbe, wären die Kompetenzen der verschiedenen Entscheidungsträger für die Bevölkerung bestimmt leichter zu verstehen. Es würde also helfen, ein solches Modell zu institutionalisieren.
Čeperković:
Ich teile Maries Ansicht, dass Föderalismus eine Option ist. Diese Idee der Vereinigten Staaten Europas hat ja über all die Jahre und Krisen überlebt, also glaube ich schon, dass sie sich in einer gewissen Form herausbilden kann – wie ist bis heute nicht definiert. Das wird aber sehr stark vom politischen Willen der europäischen Entscheidungsträger und den Wünschen der Bürger abhängen. Im Moment kann ich mir nicht vorstellen, dass es einen großen Rückhalt in der Bevölkerung gäbe, würde ein solches Konzept präsentiert. Vorher müsste also ein Prozess stattfinden, der die Bürger stärker an die EU bindet.

Welche Möglichkeiten können Sie sich vorstellen, EU-Entscheidungen demokratischer zu gestalten?

Čeperković: Das Demokratieproblem in der EU ist sehr stark verknüpft mit der Idee eines föderalen Europas. Was die Kommission bisher unternommen hat, um mehr Transparenz zu schaffen, ist eher formaler Natur. Aber wenn wir von einer echten Demokratisierung der Union sprechen, sollte es etwa eine direkte Wahl zum Präsidenten des Europäischen Rats geben. Auch europaweite politische Parteien halte ich für wichtig. Die alle fünf Jahre stattfindenden Wahlen zum EU-Parlament dürfen nicht länger als zweitrangige Wahlen angesehen werden, wie das derzeit der Fall ist. Das Parlament hat viele Rechte, die nicht genützt werden.
Buchet: Die meisten Menschen wissen nicht einmal, in welchen Bereichen die Union Entscheidungsmacht hat und in welchen nicht. Unlängst hat mich jemand gefragt, warum auf europäischer Ebene in der Sozialpolitik nichts getan wird – da musste ich erklären, dass dieses Feld leider gar nicht in die Kompetenz der EU fällt. Es gibt immer noch eine große Diskrepanz zwischen dem, was die Menschen wissen und was sie wissen sollten. Dabei ist die Kommunikationspolitik der EU eigentlich gut. Die Probleme passieren auf nationaler und lokaler Ebene.

Čeperković: Deshalb müssen nationale Regierungen getadelt werden; doch auch die Komplexität des Gesetzgebungsprozesses ist schuld am mangelnden Verständnis in der Bevölkerung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.11.2014)

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