Freizügigkeit: Konflikt zwischen EU und Schweiz spitzt sich zu

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Die EU fordert eine zweite Volksabstimmung über die Zuwanderungsbeschränkung in der Schweiz. Bern legte jüngst einen Gesetzesentwurf mit Quotenregelung vor – entsprechend dem Ausgang des ersten Votums.

Wien/Brüssel/Bern. Klarer könnten die Worte aus Brüssel nicht sein. „Unvermeidlich“ nannte der hochrangige EU-Diplomat Maciej Popowski in dieser Woche eine neue Volksabstimmung über die Zuwanderungsbeschränkung in der Schweiz, die bis Ende 2016 abgehalten werden müsse. Für die Union, sagte Popowski der Zeitung „La Liberté“, komme eine Neuverhandlung der Personenfreizügigkeit keineswegs in Frage: „Es ist unvorstellbar, dass man einen Schritt zurück macht.“ Tatsächlich stellt das Thema seit der Volksabstimmung vor 14 Monaten, bei der die Eidgenossen überraschend und mit knapper Mehrheit von 50,3 Prozent für eine Beschränkung der Einwanderung auch aus der EU gestimmt hatten, eine ernste Streitfrage zwischen Brüssel und Bern dar – wird doch das seit 2002 gültige Personen-Freizügigkeitsabkommen damit konterkariert: Dieses legt fest, dass Schweizer wie EU-Bürger das Recht haben, ihren Wohnsitz frei zu wählen – vorausgesetzt, sie können einen gültigen Arbeitsvertrag, eine selbstständige Erwerbstätigkeit oder ein ausreichendes Vermögen zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts vorweisen.

In Bern will man die Aussagen Popowskis freilich nicht überinterpretieren. So sei, wie „Die Presse“ aus regierungsnahen Kreisen erfuhr, eine weitere Abstimmung vor Ende 2016 ohnehin wahrscheinlich – und zwar mit folgendem Hintergrund: Wird bis Februar 2017 – also exakt drei Jahre nach dem ursprünglichen Votum – in der Zuwanderungsfrage keine Lösung mit der EU gefunden, muss der Bundesrat das Abstimmungsergebnis und damit die neuen Verfassungsbestimmungen auf dem Verordnungsweg einführen.

Neuer Gesetzesentwurf aus Genf

Dies aber könnte für die Schweiz dramatische Folgen haben – und eine Einigung mit der EU liegt, das wissen auch die Eidgenossen, in weiter Ferne: Vor zwei Monaten legte Genf einen neuen Gesetzesentwurf vor, der entsprechend dem Abstimmungsergebnis mittels Einführung von Quoten eine Begrenzung der Einwanderung vorsieht. Konkrete Zahlen gibt es zwar noch nicht. Wer mehr als vier Monate in der Schweiz arbeiten will, soll jedoch künftig eine Arbeitserlaubnis benötigen. Auch wird nach diesen Plänen im Einzelfall geprüft, ob es geeignete Schweizer Arbeitskräfte gibt, bevor für Ausländer eine Arbeitserlaubnis ausgestellt wird.

Die EU-Kommission will von derlei Vorhaben nichts wissen. Das stellte Jean-Claude Juncker anlässlich eines Besuchs der Schweizer Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga klar. Es gebe „kaum Verhandlungsspielraum“, warnte er damals. Auch Sommaruga gestand, die Umsetzung des Abkommens komme der „Quadratur des Kreises“ gleich.

Freilich ist die Einwanderung in die Schweiz seit dem Abschluss des Freizügigkeitsabkommens stark gestiegen. Jährlich lassen sich im Schnitt 80.000 Menschen in dem Alpenland nieder – für viele Eidgenossen nicht verkraftbar. Heute leben bereits 1,3 Millionen Bürger aus der EU in der acht Millionen Einwohner zählenden Schweiz. Mit knapp 25 Prozent hat das Land einen Ausländeranteil, der beinahe dreimal so hoch ist wie jener Deutschlands.

Umgekehrt sind auch die wirtschaftlichen Verflechtungen mit der EU vielfältig – und für die Schweiz absolut essenziell. Der Geschäftsverkehr mit den Mitgliedstaaten der Union beträgt 700 Millionen Euro am Tag; ein Drittel der Arbeitsplätze ist davon abhängig. Drei Viertel der Einfuhren und fast zwei Drittel der Ausfuhren werden mit der EU abgewickelt.

Gefürchtete „Guillotine-Klausel“

Auch deshalb könnte eine einseitige Kündigung des Personen-Freizügigkeitsabkommens für die Schweiz unabsehbare Folgen haben: Das Abkommen ist nämlich Teil der sogenannten Bilateralen Verträge, deren Inhalt großteils die Wirtschaftsbeziehungen der Schweiz mit der EU betreffen. Wird einer dieser Verträge gekündigt, tritt die sogenannte Guillotine-Klausel in Kraft, wonach auch alle anderen Verträge automatisch gekündigt werden. Angesichts dieser Ausgangslage, heißt es in Bern, könnte eine zweite Volksabstimmung zum Thema sich zum Beispiel generell um die Frage drehen, ob die Schweizer weiter auf bilateralem Weg mit der EU verbunden sein wollen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.04.2015)

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