„Die Europäer fühlen sich immer noch relativ sicher“

Interview. Jan Techau, Chef des Thinktanks Carnegie Europe, warnt die EU davor, sich in puncto Sicherheit nur auf die USA zu verlassen.

Die Presse: Wie sicher ist Europa im Jahr 2015?

Jan Techau: Europa ist ziemlich sicher, aber die Sicherheitslage wird nach und nach schlechter. Und Europa ist bei seiner Sicherheit im Wesentlichen von den Vereinigten Staaten abhängig – das ist auch der Grund für diese relative Sicherheit. Selbst könnten wir unsere Sicherheit nicht garantieren. Wir haben es mit einem wackeligen Konstrukt zu tun.

Wie prekär ist dieses Sicherheitsarrangement mit den USA?

Amerika wird sich nie vollständig aus Europa verabschieden können. Dafür hat es hier zu starke Interessen – die größten Investments und die besten Freunde, die es auf dieser Welt finden kann. Geopolitisch betrachtet ist Europa die Gegenküste der USA. Und für Washington war es immer von großer Bedeutung, dass es auf der anderen Seite des Teichs stabil zugeht.

Allerdings heißt es doch immer wieder, die USA würden sich am liebsten Asien zuwenden.

Die strategische Großwetterlage macht es für die Amerikaner notwendig, ihr Hauptaugenmerk auf die andere Seite des Pazifiks zu richten. Asien wird die große geopolitische Suppenküche des 21. Jahrhunderts, dort wird über globalen Krieg und globalen Frieden entschieden werden. Diese Entwicklung lässt die Europäer etwas ratlos zurück. Einerseits, weil sie sich daran gewöhnt haben, von den Amerikanern sicherheitspolitisch subventioniert zu werden. Und andererseits, weil sie ökonomisch und politisch gar nicht in der Lage sind, es komplett selbst zu machen.

Woran liegt es, dass die Europäer zu wenig für ihre eigene Sicherheit sorgen?

Es gibt mehrere Gründe: erstens das Arrangement mit den USA. Der zweite Grund liegt darin, dass sich die Europäer trotz aller Krisen in ihrer Nachbarschaft immer noch relativ sicher fühlen. Es gibt kein wirklich akutes Bedrohungsgefühl und deswegen auch keine wirkliche Diskussion über europäische Sicherheit, die über Expertenkreise hinausgeht. Selbst die Ukraine-Krise, die das europäische Sicherheitssystem an sich infrage stellt, hat zu keiner Grundsatzdebatte geführt – anders als es bei der Eurokrise der Fall ist, über die jeder erregt diskutiert. Dritter Punkt: Die wirtschaftlichen Probleme der EU binden die Energien der Politiker.

Die Befürworter des Status quo argumentieren, die EU erfülle sicherheitspolitische Pflichten als ehrlicher Makler und durch die Beitrittsperspektive, die sie ihren Nachbarn bietet. Stimmt dieses Argument nicht mehr?

Nein, in diesen Bereichen hat Europa nach wie vor einiges zu bieten. Bei der EU-Erweiterungspolitik nicht so sehr. Dieses Instrument ist mittlerweile mit einigen Ausnahmen ziemlich stumpf geworden, weil wir bei den Verhandlungen mit Kandidaten wie der Türkei selbst nicht genau wissen, ob wir ihren EU-Beitritt wollen oder nicht. Auf dem Balkan hat die EU aber durchaus für Stabilität gesorgt, das darf man nicht vergessen. Die Rolle des Maklers funktioniert hier und da ganz gut – zum Beispiel bei den Iran-Verhandlungen hat Europa eine Dienstleistung angeboten. Doch der eigentliche Deal wird anderswo gemacht. Ein Machtmittel gibt es noch: den Zugang zum EU-Binnenmarkt. Dieses Instrument wurde von der EU bisher sehr zurückhaltend eingesetzt.

Die EU nützt also ihr Potenzial nicht zur Gänze aus.

Am Ende des Tages gilt nach wie vor die eiserne Regel: Wer nicht über Hard Power – also militärische Macht – verfügt, der wird auch diplomatisch immer die zweite Geige spielen. Das erfährt Europa sehr schmerzhaft an vielen Baustellen der Welt.

Also liegt es schlussendlich am mangelnden Gestaltungswillen der europäischen Politiker und Wähler.

Dieser Gestaltungswille muss von den Mitgliedstaaten ausgehen. Das können die Institutionen in Brüssel allein nicht leisten – sie können Taktgeber sein, aber haben nicht die Kraft, die Union in Bewegung zu setzen. Die EU-Mitglieder sind in der Außenpolitik gespalten. Einige sind groß genug, um immer noch die Illusion zu haben, dass sie über eine eigene Außenpolitik verfügen. Und viele sind so klein, dass sie gar keine Außenpolitik mehr haben. In den EU-Hauptstädten gibt es niemanden, der sich als Anwalt einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verstehen würde. (la)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2015)

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