Mentor, Makler, Friedensstifter

Europafahne - flag of europe
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Außen- und Sicherheitspolitik: Die Europäische Union übt Einfluss auf eine subtile Art und Weise aus – indem sie glaubwürdig vermittelt, eine Vorbildfunktion erfüllt und Beitrittsperspektiven bietet.

Neben „Gulp“, „Aarrgh“, „Zoing“, „Bonk“ und „Bumm“ zählt „Gasp“ zum standardmäßigen Füllmaterial von Comics-Sprechblasen. Wer in seinen jungen Jahren die gezeichneten Abenteuer von Donald Duck verschlungen hat, weiß, dass der letztgenannte Ausdruck zwei Gemütszustände signalisieren kann – entweder atemloses Erstaunen oder atemraubendes Erschrecken. Im Gegensatz zu den anderen Lautmalereien kommt „Gasp“ allerdings auch abseits der „Lustigen Taschenbücher“ und Pop-Art-Gemälde eines Roy Lichtenstein vor – und zwar in der Europapolitik, wo es als Akronym für Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bekannt ist.

Zwischen den beiden Bedeutungen mögen zwar Welten liegen, eines haben sie jedoch gemeinsam: Die Art und Weise, in der Europa seine Sicherheit organisiert und mit der Außenwelt in Verbindung tritt, kann einen engagierten Beobachter wahlweise zur Verzweiflung treiben oder in Erstaunen versetzen – Verzweiflung ob der Tatsache, dass in Europa auch 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch das Trennende über dem Gemeinsamen steht, und Erstaunen darüber, dass es den Europäern gelungen ist, überhaupt so weit zu kommen.

Aus der heutigen Perspektive betrachtet, erscheinen die zwei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wie ein posthistorisches Paradies: Das befriedete Europa konnte sich ruhigen Gewissens der Mehrung und Verwaltung des eigenen Wohlstandes widmen. Die Furcht der europäischen Nachbarn voreinander wich dem Frust über die vielen ärgerlichen Unvollkommenheiten des gemeinsamen Binnenmarkts – beispielsweise darüber, dass es der EU-Kommission die längste Zeit nicht gelingen wollte, die Leitsysteme der nationalen Eisenbahnnetze zu vereinheitlichen.

Fundamentales Bedürfnis

Dieses auf den ersten Blick banale Beispiel führt geradewegs zum Kern des Problems: Im Gegensatz zu Energiesparlampen oder Agrarsubventionen berührt die Frage der Eisenbahn nationale Sicherheitsinteressen. Die unterschiedlichen Normen haben nämlich einen historisch fundierten Grund: Im Kriegsfall sollte es der Angreifer möglichst schwer haben, das Eisenbahnnetz seines Opfers schnell unter Kontrolle zu bringen und eigene Truppen tief ins Landesinnere zu befördern. Wer also die Mühen der Brüsseler Behörde nachvollziehen will, muss in diesem Fall ins 19.Jahrhundert zurückblicken.

Dass die Vergangenheit so lange nachwirkt, ist in der sogenannten Pyramide der Bedürfnisse begründet, die der US-Psychologe Abraham Maslow in den 1940er-Jahren konzipiert hat. Demnach befindet sich das Bedürfnis nach Sicherheit im Sockel der Pyramide und an zweiter Stelle hinter den physiologischen Grundbedürfnissen – alle anderen Wünsche werden hintangestellt. Auf die Politik umgelegt bedeutet das, dass die Gewährleistung von Sicherheit zu den Kernkompetenzen eines Staates gehört. Deswegen lässt sie sich nur sehr schwer vergemeinschaften – wenn überhaupt. Ernsthaft versucht wurde dies Anfang der 1950er-Jahre – doch die Pläne einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, die die einstigen Erzfeinde Frankreich und Deutschland zusammenschweißen sollte, scheiterten am Widerstand der französischen Abgeordneten. Stattdessen sorgte fortan die Nato für die Verteidigung Westeuropas gegen den Warschauer Pakt.

Wenig Begeisterung

Dieser ist zwar längst im Orkus der Geschichte verschwunden, doch die Nato gibt es nach wie vor, obwohl die Begeisterung für das Bündnis zuletzt spürbar zurückgegangen ist – zumindest in jenen Teilen der EU, die nicht unter der kommunistischen Fremdherrschaft leiden musste. Eine Anfang Juni 2014 publizierte Umfrage des US-Instituts Pew Research Center hat ergeben, dass in Deutschland und Frankreich die Mehrheit gegen Waffenhilfe für einen Bündnispartner ist, sollte dieser militärisch angegriffen werden. Ginge es also nach dem Willen des Wahlvolkes, wäre die Nato Geschichte – und mit ihr das einzige Instrument der kollektiven Sicherheit in Europa.

Heißt das also, dass die EU in der Außen- und Sicherheitspolitik zum Schattendasein verurteilt ist? Mitnichten. Sie ist durchaus in der Lage, Einfluss auszuüben – nur tut sie das auf eine subtile Weise, die mit Machtpolitik klassischen Zuschnitts wenig zu tun hat. Sie agiert nicht als Feldherr, sondern als Mentor und ehrlicher Makler.

Der im Zuge des Lissabon-Reformprozesses gegründete Auswärtige Dienst der Union und seine erste Chefin, Catherine Ashton, wurden anfangs belächelt – doch in den Verhandlungen über die nuklearen Ambitionen des Iran zeigte sich rasch, dass die Mullahs sie als glaubwürdige Gesprächspartnerin schätzen. Und die ehemaligen Satelliten der Sowjetunion in Mitteleuropa wären nach dem Kollaps des Ostblocks möglicherweise nicht friedlich geblieben, hätte die EU ihnen keine Beitrittsperspektive eröffnet. In beiden Fällen zeigte sich, dass die oft kritisierte Eigenheit der EU, Probleme zu zerlegen und so lange an den Einzelteilen zu feilen, bis sich aus ihnen ein neues Bild zusammensetzen lässt, ein durchaus effektives Instrument zur Friedenssicherung ist. Es ist allerdings weniger glamourös als Männer in schneidigen Uniformen. „Wie viele Divisionen hat der Papst?“, spottete Josef Stalin einst. Am Ende war es ein aus Polen stammender Pontifex, der das Sowjetreich nachhaltig destabilisierte. Auch der EU stehen keine Divisionen zur Verfügung. Doch sie hat sie zum Glück auch nicht nötig.

IN ZAHLEN

136 EU-Botschaften. Die EU ist mit 136 eigenen Büros in Drittländern und internationalen Organisationen vertreten. Sie nehmen die Interessen aller Mitgliedstaaten wahr und sind auch für Probleme von EU-Staatsbürgern zuständig.

3600 Mitarbeiter zählt der Auswärtige Dienst der Europäischen Union (EAD) mittlerweile. 110 Mitarbeiter sind allein für die Vernetzung der nationalen Gemeindienste INTCEN (Intelligence Centre) zuständig.

Je 1500 Soldaten stehen in zwei Battle Groups ständig in Bereitschaft, um in internationalen Krisen zu intervenieren. Sie werden jeweils von mehreren Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt.

8 Mrd. Euro stehen jährlich für alle internationalen Politikfelder der EU bereit. Eingerechnet sind Entwicklungshilfe, Nachbarschaftspolitik sowie Hilfe für Kandidatenländer. Für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik stehen 320 Mio. Euro zur Verfügung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2015)

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