Flüchtlinge: Warum sie nach Europa wollen

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Immer mehr Menschen drängen in die Europäische Union. Sechs Gründe dafür, warum die Massenmigration gerade jetzt so enorm ist.

Wien. Wieder sind tausende Flüchtlinge von Ungarn nach Österreich gekommen, und tausende drängen nach. Allein bis zum Nachmittag waren mehr als 2500 Menschen auf dem Wiener Westbahnhof eingetroffen, mehr als 3000 warteten in Nickelsdorf noch auf die Weiterfahrt. Warum ist der Ansturm gerade jetzt so enorm?

Eskalation in den Heimatländern. Die Massenflucht aus Syrien ist laut dem Flüchtlingshochkommissariat UNHCR der Hauptgrund für die beispiellos hohen Flüchtlingszahlen in Europa; eine große Flüchtlingswelle wird auch aus dem Irak erwartet. „Viele syrische Flüchtlinge kommen inzwischen fast direkt aus Syrien nach Europa und halten sich nur noch kurz in den Nachbarstaaten auf“, teilte das UNHCR in Genf auf „Presse“-Anfrage mit. In Syrien wird inzwischen in fast allen Regionen gekämpft. Immer mehr Menschen sind deshalb aus ihren Heimatorten vertrieben worden, und es gibt laut UN-Experten immer weniger sichere Rückzugsorte für die rund 7,6 Millionen Binnenvertriebenen. Auch im Irak ist die Lage instabil, viele sind vor dem Islamischen Staat (IS) geflohen.


Die Nachbarstaaten sind voll. Mehr als vier Millionen Syrer sind in die Nachbarländer geflohen, die meisten nach Jordanien, in den Libanon und in die Türkei. Der Libanon (sechs Mio. Einwohner und 1,2 Mio. Flüchtlinge) und Jordanien (6,7Mio. Einwohner und 630.000 Flüchtlinge) sind so überfordert, dass sie ihre Grenzen de facto dichtgemacht haben: Der Libanon lässt nur mehr jene Syrer über die Grenze, die gültige Papiere besitzen und einen triftigen Grund für die Einreise angeben können – oder weiterreisen wollen. Auch Jordanien hat die Grenzkontrollen so stark verschärft, dass pro Tag nur mehr 25 bis 40 Menschen zugelassen werden. Und die Türkei hält die Flüchtlinge auf ihrer Reise nach Griechenland nicht auf.


Keine Versorgung, keine Perspektive. Die UN-Organisationen, allen voran das Welternährungsprogramm (WFP), haben ihre Hilfspläne für die Flüchtlinge in Syriens Nachbarstaaten um mehr als die Hälfte gekürzt, weil ihnen die Mittel fehlen. Im Libanon leben mehr als 70 Prozent der Flüchtlinge unter der Armutsgrenze. Viele haben ihr gesamtes Gut verkauft und Kredite aufgenommen, um sich versorgen zu können. Auch nach Jahren des Krieges haben die Menschen keine Perspektive: Sie können nicht arbeiten, nicht zur Schule gehen oder studieren. Und es ist kein Ende in Sicht.


Offene Tore in Griechenland. Mit über 230.000 Ankömmlingen in diesem Jahr ist der Krisenstaat heillos überfordert und lässt die Menschen weiterreisen. Der nächste Massenansturm steht bevor: Mehr als 30.000 Flüchtlinge befinden sich auf den griechischen Inseln, die auf das Festland gebracht werden. Das UNHCR geht davon aus, dass sich die meisten „in den nächsten Wochen“ auf den Weg nach Mitteleuropa machen. Am Donnerstag passierten 4000 Menschen die Grenze von Griechenland nach Mazedonien, 3000 weitere warteten dort auf die Weiterreise.


Panik in Ungarn. Mit dem Bau des Grenzzauns will Budapest den Flüchtlingsansturm eindämmen, außerdem tritt am 15.September ein neues Gesetz in Kraft, das strengere Grenzkontrollen und Haftstrafen für illegale Grenzübertritte vorsieht. Danach werden die Flüchtlinge neue Routen wählen müssen. Deshalb versuchen viele, diese Route zu nutzen, solange es noch geht.


Der deutsche Sog-Effekt. Seitdem Kanzlerin Angela Merkel angekündigt hat, Flüchtlinge aus Syrien nicht mehr in andere EU-Länder zurückzuschicken, sehen viele Menschen die Chance auf ein neues Zuhause in Europa. Über die sozialen Netzwerke hat sich die Nachricht über die deutschen Maßnahmen rasch verbreitet. Viele Zurückgebliebenen erfahren von Verwandten und Bekannten, dass sie gut in Europa angekommen sind – und fühlen sich ermutigt, die Reise ebenfalls auf sich zu nehmen. Auf die Reise machen sich dann aber nicht nur Syrer, sondern auch Menschen aus anderen Krisenstaaten des Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.09.2015)

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