Flüchtlinge: EU und Türkei sind sich einig

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und der türkische Präsidnet Recep Tayyip Erdogan gehen in der Flüchtlingsfrage nun gemeinsame Wege.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und der türkische Präsidnet Recep Tayyip Erdogan gehen in der Flüchtlingsfrage nun gemeinsame Wege.(c) REUTERS (FRANCOIS LENOIR)
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Türkei spielt bei Eindämmung des Flüchtlingsstroms eine Schlüsselrolle. Die EU muss Erdogan entgegenkommen. Die Flüchtlingskrise zwingt die EU zu Pragmatismus.

Brüssel. Eine politische EU-Kommission für ein Europa im Umbruch – so lautete das Leitmotiv von Jean-Claude Juncker bei seinem Amtsantritt als Kommissionspräsident im vergangenen November. Dem langjährigen Luxemburger Regierungschef schwebte eine Brüsseler Behörde vor, die strategisch in die Weite blickt, Weichen stellt und die EU-Bürger mit regulatorisch-gesetzlichem Mikromanagement verschont. Nach bald zwölf Monaten der Ära Juncker lässt sich konstatieren, dass dieses Ziel durchaus erreicht wurde – wenn auch unfreiwillig. Denn die EU steht mittlerweile ganz im Zeichen der Realpolitik. Idealismus können sich Juncker und seine Kollegen in den Hauptstädten der Union schlicht und ergreifend nicht mehr leisten.

Die Flüchtlingskrise der vergangenen Monate ist das jüngste Beispiel für diesen neuen Pragmatismus. Noch bevor die Staats- und Regierungschefs der EU bei ihrem gestrigen Gipfeltreffen in Brüssel zum Abendessen gerufen wurden, erreichte sie die Kunde, dass sich die EU-Kommission und die Regierung in Ankara auf einen Deal zur Eindämmung der Flüchtlingskrise geeinigt haben. Von einer „neuen Grundlage“ im Verhältnis mit der Türkei sprach Donnerstagabend EU-Kommissar Johannes Hahn gegenüber der Austria Presse Agentur. Diese vertiefte Kooperation ist nicht der verbesserten Menschenrechtslage in der Türkei geschuldet, sondern einzig der Tatsache, dass man die Türken braucht, um syrische Kriegsflüchtlinge an der Weiterreise nach Europa zu hindern. Dafür war man in Brüssel offenbar bereit, einiges in Kauf zu nehmen: So soll im kommenden Jahr die Entscheidung über Visaliberalisierung für türkische Staatsbürger fallen, weiters will die Kommission mehrere Kapitel in den EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara eröffnen – nach Angaben der „Financial Times“ geht es um insgesamt fünf Kapitel, darunter die besonders heiklen Themen Justiz und Grundrechte.

EU-Mitgliedstaaten müssen zustimmen

Zwei bis drei Mrd. Euro an bilateralen Zuschüssen der EU-Mitgliedstaaten sollen zur Finanzierung der rund zwei Millionen syrischer Flüchtlinge in der Türkei überwiesen werden. Und welche Leistungen muss im Gegenzug Ankara erbringen? Dem Vernehmen nach geht es um „Grenzsicherung“, verstärkte Zusammenarbeit mit der EU in Flüchtlingsfragen, sowie um Perspektiven für syrische Flüchtlinge in der Türkei selbst – das nicht laut ausgesprochene Ziel der Europäer lautet, dass möglichst viele Syrer möglichst nahe der syrischen Grenze bleiben.

Allerdings ist noch nicht klar, ob das Verhandlungsergebnis im Gremium der EU-Mitglieder Zustimmung findet. Denn ohne einen politischen Siegel des Rats hat der Deal der Kommission kein Gewicht. Und mehrere Mitgliedstaaten hatten im Vorfeld ihre Zweifel an der Türkei als sicherer Drittstaat geäußert. Geht es nach den Worten des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdoğan, wird der Deal auch die Einstufung der Türkei als sicheres Herkunftsland beinhalten – was schlussendlich bedeuten würde, dass die EU Asylwerber in spe, die über die Türkei nach Europa gekommen sind, dorthin wieder zurückschicken kann.

Aus der europäischen Perspektive hat dies den Reiz, dass man dadurch Syrer leichter in türkische Flüchtlingslager abschieben kann. Dass verfolgte kurdische Aktivisten unter die Räder der EU-Asylpolitik geraten könnten, nimmt man wohl oder übel in Kauf. Und die von Erdoğan gewünschten medienwirksamen Treffen mit EU-Granden sind ebenfalls kein Problem. „Wir veranstalten dauernd Gipfel mit der halben Welt, also können wir zur Abwechslung mal auch die Türken einladen“, lautet dazu der lakonische Kommentar eines Diplomaten.

In ihrem Bemühen, den Druck an den Außengrenzen zu senken, will die EU in ihrer Nachbarschaft künftig leiser treten – von einem „Ende der demokratischen Evangelisation“ sprach der Vertreter eines großen Mitgliedstaats vor wenigen Tagen. Das betrifft nicht nur den Nahen Osten – dass die EU-Außenminister am Montag den Ausstieg aus den seit Jahren geltenden Sanktionen gegen die Entourage des weißrussischen Autokraten Alexander Lukaschenko besiegelt haben, hat wenig mit dem Gebaren Lukaschenkos, aber viel mit den Aktivitäten von Wladimir Putin zu tun. Als ein nach Osten ausgerichteter Wellenbrecher ist der vormals als „letzter Diktator Europas“ titulierte ehemalige Kolchosendirektor durchaus willkommen.

Migrationsdruck lässt nicht nach

Realpolitik wird mittlerweile nicht nur nach außen praktiziert. Innerhalb der EU bieten die bevorstehenden Verhandlungen mit Premier David Cameron über eine Neuausrichtung des britisch-europäischen Verhältnisses die nächste Gelegenheit für Pragmatismus – inklusive einer möglichen Streichung des Ziels einer „immer engeren Union“ aus der Präambel der EU-Verträge. Angesichts der Erfahrungen der vergangenen Jahre wird dieser Wunsch der europäischen Gründungsväter ohnehin immer lauter infrage gestellt.

Doch gegenüber dem oftmals naiv wirkenden Idealismus der EU hat Realpolitik einen klaren Nachteil: Im Unterschied zu jener wolkiger Fernziele ist ihre Effektivität in der Gegenwart überprüfbar. Was die Türkei anbelangt, sind Experten derzeit eher skeptisch – Mujtaba Rahman vom Thinktank Eurasia Group geht davon aus, dass die Führung in Ankara aus innenpolitischen Gründen möglichst viele Flüchtlinge Richtung Europa komplimentieren möchte. Mit mehr als symbolischen Maßnahmen sei daher nicht zu rechnen, schrieb Rahman in einer gestern publizierten Analyse. Sein Fazit: Der Migrationsdruck auf Europa werde auch 2016 nicht nachlassen und sukzessive das politische Klima innerhalb der EU vergiften. Ob Pragmatismus als einziger Kitt die Union zusammenhalten kann, bleibt also abzuwarten.

Eine besonders wichtige Rolle fällt dabei der deutschen Bundeskanzlerin zu. Je mehr Angela Merkel daheim unter Druck gerät, desto größer die Versuchung, die Interessen Deutschlands auf Biegen und Brechen durchzusetzen, notfalls gegen den Widerstand der zu Juniorpartnern degradierten EU-Mitglieder. Realpolitik als Ultima Ratio – so hat sich das Kommissionschef Juncker vor einem Jahr wohl nicht vorgestellt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2015)

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