Frankreich: Gefangen im Dickicht der Eliten

FRANCE GERMANY MERKEL DIPLOMACY
FRANCE GERMANY MERKEL DIPLOMACY(c) APA/EPA/GUIDO BERGMANN / GERMAN (GUIDO BERGMANN / GERMAN FEDERAL)
  • Drucken

Britische Forscher machen ein Geflecht aus Etatisten und Karrierebürokraten für die französische Reformunfähigkeit verantwortlich.

Brüssel/London. ENA – dieses in Frankreich gut bekannte Akronym steht für die École nationale d'administration, die Kaderschmiede für angehende französische Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft. Der derzeit wohl bekannteste „Énarque“ ist Staatspräsident François Hollande, der einige seiner Kommilitonen in sein Kabinett berufen hat. Doch trotz exzellenter Qualifikationen und bester Kontakte sind der Staatschef und seine Regierungsmitglieder bis dato an der Aufgabe gescheitert, Frankreich eine Frischzellenkur zu verpassen – im Gegenteil: Während gut dreiviertel aller Franzosen mit Hollandes Arbeit unzufrieden sind, wenn man Umfragen Glauben schenken will, surft Marin Le Pen, die Chefin des rechtspopulistischen Front National, auf einer immer größer werdenden Sympathiewelle in Richtung Präsidentenwahl 2017.

Was sind die Ursachen für die offensichtliche Reformunfähigkeit Frankreichs? Geht es nach der Analyse von Brigitte Granville, Jaume Martorell Cruz und Martha Prevezer, dann tragen die ENA-Absolventen einen nicht unbeträchtlichen Teil der Verantwortung für die Malaise. Die drei Wissenschaftler von der Queen Mary University of London haben untersucht, inwieweit das auf Bildungseliten fokussierte französische Gesellschaftssystem bei der Bewältigung der aktuellen Probleme hinderlich ist, und dabei Frankreich mit Deutschland verglichen. Ihr Fazit: Frankreich ist in einem regelrechten „Elitendickicht“ gefangen, das Reformen aus Eigennutz verhindert und an überkommenen Denkmustern festhält. Stimmt diese Diagnose, dann wären Hollande und Co. von vornherein keine Hoffnungsträger, sondern vielmehr Teil des Problems.

Das war allerdings nicht immer so: Während der in Frankreich mythisch verklärten „trentes glorieuses“, dem Zeitraum von 1945 bis 1975, sorgte das System für traumhafte Wachstumsraten, indem der Staat aktiv in das Wirtschaftsgeschehen eingriff und die Marschrichtung vorgab – von der Kernkraft bis zu den TGV-Schnellzügen. Nach Ansicht der drei Forscher funktionierte dies nur, weil der französische Markt in der Nachkriegszeit vor ausländischer Konkurrenz geschützt war. Fortschreitende Globalisierung auf der einen und Vertiefung des europäischen Binnenmarkts auf der anderen Seite machten allerdings den Etatismus zusehends unwirksam – ein Problem, das durch die schiere Größe des Staatssektors verstärkt wird. Nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds wird der Staat heuer für 57,5 Prozent der französischen Wirtschaftsleistung verantwortlich sein – elf Prozentpunkte mehr als im Durchschnitt der Eurozone.

Macht der Netzwerke

Dass Reformbemühungen versanden, führen die drei Studienautoren auf einen Nebeneffekt des Systems zurück: gute Ideen, die von unten kommen – also aus den niederen Rängen der Bürokratie und Realwirtschaft –, dringen nicht nach oben, weil sich in den Chefetagen die Überzeugung verfestigt hat, Reformen müssten zentral geplant und hierarchisch exekutiert werden. Hinzu kommt, dass die Elitebürokraten nicht nur in den Ministerien, sondern auch in (staatsnahen) Großunternehmen, Medien und Interessenvertretungen das Sagen haben und miteinander netzwerken – etwa im exklusiven Klub Le Siècle, dessen Mitglieder laut der Studie über folgende gemeinsame Merkmale verfügen: Sie sind männlich, über 55 Jahre alt, stammen aus Wirtschafts- oder Bürokratendynastien und verfügen über den richtigen Studienabschluss (ENA oder Sciences Po).

Während also in Frankreich mentale Starre begünstigt wird, wird sie in Deutschland strukturell bekämpft. Aufgrund der Tatsache, dass Deutschland erstens über keine vergleichbaren Kaderschmieden verfügt, zweitens mittelständisch geprägt und drittens sozialpartnerschaftlich orientiert ist, seien Innovationen und Reformen leichter durchsetzbar, attestieren die Forscher.

Einen Ausweg aus dem französischen Dilemma bietet die Studie nicht – da der Zentralismus nach Ansicht der Autoren gesellschaftlich verankert ist: Demnach waren in einer 2008 durchgeführten Umfrage nur knapp 27Prozent der befragten Franzosen der Ansicht, Kinder müssten zur Unabhängigkeit erzogen werden. In Deutschland waren es 71,5 Prozent.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.