Die Innenminister werden die EU-Kommission am Freitag aller Voraussicht nach mit der Vorbereitung einer befristeten Aussetzung der Schengen-Zone beauftragen.
Brüssel. Es ist eine jener legistischen Hintertüren, ohne die so gut wie kein EU-Rechtstext vollständig wäre und die eine geordnete Rückkehr zum Status quo ante ermöglichen: der Artikel 26, Absatz 1, der Novelle des Schengen-Grenzkodex vom 22. Oktober 2013. Der besagte Passus hält fest, dass „im Fall außergewöhnlicher Umstände, unter denen das Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen insgesamt gefährdet ist“, die EU-Mitglieder Kontrollen an den Binnengrenzen der Union wiedereinführen dürften, und zwar für die Dauer von maximal vier mal sechs Monaten, also insgesamt zwei Jahren.
Genau diese Hintertür werden die am Freitag in Brüssel versammelten Innenminister aller Voraussicht nach einen Spalt weit öffnen. Wie aus den offiziellen Unterlagen hervorgeht, die die Luxemburger Ratspräsidentschaft zur Vorbereitung des heutigen Innenministerrats am 1. Dezember an die diplomatischen Vertretungen der Mitgliedstaaten in Brüssel ausgesandt hat und die der „Presse“ vorliegen, werden die Ressortchefs die EU-Kommission damit beauftragen, Vorbereitungsarbeiten für eine mögliche Aktivierung des Paragrafen 26 zu leisten. In der Brüsseler Behörde dürften diese Arbeiten schon angelaufen sein: Wie eine Sprecherin der Kommission am gestrigen Donnerstag bestätigte, wurde ein Bericht über das Funktionieren von Schengen, den die Kommission den Innenministern heute eigentlich vorlegen wollte, bis zum kommenden regulären Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs am 17. Dezember verschoben – er werde gemeinsam mit einem Lagebericht zu den Hotspots in Italien und Griechenland und der Verteilung der dort registrierten Flüchtlinge auf die Union übergeben. Politisch hat dies jedenfalls Sinn: Eine Entscheidung mit derart großer Tragweite wie die (auch nur temporäre bzw. regionale) Aussetzung der Schengen-Zone kann keinesfalls auf Ministerebene gefällt werden – sie ist eindeutig Chefsache. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass barrierefreies Reisen innerhalb der EU gemäß Umfragen zu jenen Errungenschaften zählt, die den Unionsbürgern besonders am Herzen liegen.
Sperrt Schweden die Öresund-Brücke?
Die bisherigen Kontrollen fielen jedenfalls unter kurzfristige Schengen-Ausnahmeregelungen, deren kumuliertes Limit (je nach Passus) bei maximal sechs Monaten liegt. Doch in den Hauptstädten der Union dürfte man mittlerweile zur Einsicht gelangt sein, dass erstens die Flüchtlingskrise weiter anhalten und zweitens der Druck auf Griechenland, seine EU-Außengrenze besser zu kontrollieren, wenig fruchten werde. Außerdem hätte eine (bereits intern diskutierte) Suspendierung der griechischen Schengen-Mitgliedschaft ohnehin wenig Sinn, denn jene Flüchtlinge, die über die Balkanroute (Mazedonien und Serbien) in Richtung Europa ziehen, müssen den Schengen-Raum auf ihrem Weg ohnehin verlassen. Seit Jahresbeginn kamen insgesamt mehr als 700.000 Flüchtlinge in Griechenland an, die Mehrzahl von ihnen reiste weiter in Richtung Deutschland und Schweden – wo mittlerweile über eine Sperrung der acht Kilometer langen Öresund-Brücke, die Schweden mit Dänemark verbindet, nachgedacht wird. In Stockholm geht man für das Gesamtjahr 2015 von rund 200.000 Asylwerbern aus.
Die rapide eskalierende Situation hat nun auch Donald Tusk auf den Plan gerufen. Im Gespräch mit mehreren Tageszeitungen forderte der Ratspräsident mit den Worten „Diese Flüchtlingswelle ist zu groß“ ein Umdenken sowie eine gründliche, notfalls auch mehrmonatige Überprüfung der Neuankömmlinge – eine Reaktion auf Indizien der französischen Behörden, wonach mindestens zwei Attentäter vom 13. November dank gefälschter syrischer Pässe nach Paris gekommen sein dürften.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.09.2015)