Bei einem von Faymann einberufenen Minigipfel wurde die engere Zusammenarbeit mit der Türkei diskutiert. Der Graben zwischen den hauptbetroffenen Ländern und Osteuropa vertieft sich.
Brüssel. Werner Faymann hatte das wichtigste Meeting des Tages schon hinter sich, als er am Donnerstagnachmittag zum EU-Gipfel im Brüsseler Ratsgebäude eintraf. Der Kanzler lächelte stolz. Ein Minigipfel der „Willigen“ zur Flüchtlingsfrage, den Faymann am Vormittag in der Ständigen Vertretung Österreichs bei der EU einberufen hatte, erregte beinahe mehr Aufmerksamkeit als das eigentliche Ratstreffen Stunden später.
Kein Wunder, war doch der Anlass der separaten Zusammenkunft – die Unmöglichkeit, in der Krise gemeinsame Lösungen auf EU-Ebene zu finden – ebenso delikat wie der Gesprächsinhalt selbst: Unter strenger Geheimhaltung diskutierten neben Faymann die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, und die Regierungschefs aus Belgien, den Niederlanden, Schweden, Finnland, Luxemburg, Griechenland, Slowenien und Portugal, der Europaminister Frankreichs sowie Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker über eine Vertiefung der Zusammenarbeit mit der Türkei, die als wichtiges Transitland in der Flüchtlingskrise für Europa eine Schlüsselrolle spielt. Premier Ahmet Davutoğlu war eigens angereist, um dem knapp dreistündigen Treffen beizuwohnen.
Noch aber gibt es vonseiten der teilnehmenden EU-Länder keine fixe Zusage an Ankara, ein bestimmtes Kontingent syrischer Flüchtlinge aus der Türkei zu übernehmen: Zuvor müssten die Flüchtlingszahlen durch einen verstärkten türkischen Grenzschutz deutlich reduziert werden, ließ Faymann nach dem Minigipfel wissen.
Laut UNHCR gab es zwischen Jänner und November 950.000 Grenzübertritte potenzieller Flüchtlinge in die EU – davon kam ein Großteil über die Türkei. Wie ein Papier der luxemburgischen Ratspräsidentschaft zeigt, haben sich die Zahlen auch nach dem Beschluss über einen gemeinsamen Aktionsplan mit Ankara Ende November nicht merklich reduziert. Kamen davor täglich 5000 bis 6000 über die türkische Grenze, sind es heute 4000 – und dieser geringe Rückgang dürfte eher dem schlechten Wetter als einem restriktiveren Grenzschutz geschuldet sein.
Die Verhandlungen mit der Türkei seien also eher ein laufender Prozess, hieß es gestern in Brüssel – vor dem nächsten EU-Gipfel am 28. Februar soll es wieder ein Treffen mit Davutoğlu geben, bei dem die Regierungschefs aller „willigen“ Länder willkommen sind. Eine gemeinsame Vereinbarung über Kontingente dürfte aber schwierig werden – das zeigt allein die Tatsache, dass die Verteilung jener 160.000 in Griechenland und Italien gestrandeten Flüchtlinge, auf die sich die EU-Staaten in einer Mehrheitsentscheidung vor Monaten geeinigt haben, aufgrund des Unwillens mehrerer osteuropäischer Länder bisher kaum angelaufen ist.
Faymann droht Osteuropäern
Die Kluft zwischen den von der Zuwanderung hauptbetroffenen EU-Staaten, die dringend mehr Solidarität einfordern, und der von Polen und Ungarn angeführten Front der Gegner einer fairen Flüchtlingsverteilung vergrößert sich also zusehends, wie auch Parlamentspräsident Martin Schulz kommentiert hat: „Die Spaltung ist unübersehbar.“
Daran änderte auch das Ratstreffen am gestrigen Abend nichts – wenngleich Faymann den Druck auf die unwilligen Osteuropäer zuvor in einem Interview mit der „Welt“ erhöht hatte: Wer sich einer fairen Verteilung verweigere, „stellt die gesamte Finanzierung des EU-Haushalts infrage und macht es Nettozahlern wie Österreich künftig sehr schwer, weiterhin so viel Geld einzuzahlen“, warnte er. Die Kommission aber will von einem solchen Vorgehen nichts wissen: Kristalina Georgieva, die Vizepräsidentin der Brüsseler Behörde, ließ via „FAZ“ ausrichten, Strukturhilfen dürften nicht mit der Flüchtlingsfrage verknüpft werden. Dennoch ließ das ungewohnt offensive Auftreten Faymanns auf dem Brüsseler Parkett nicht nur in Österreich aufhorchen: Der Kanzler stand bisher eher unter dem Verdacht, bei wichtigen Treffen lediglich die deutsche Position anzunehmen und kaum eigene Initiativen zu setzen – jedenfalls nicht inhaltlicher Natur.
Weitere Infos: www.diepresse.com/flüchtlinge
AUF EINEN BLICK
Bei einem Minigipfel vor dem eigentlichen Ratstreffen der 28 diskutierten elf EU-Mitgliedstaaten in der Ständigen Vertretung Österreichs mit dem türkischen Premier, Ahmet Davutoğlu, über eine vertiefte Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage. Noch gibt es keine Vereinbarung über die Anzahl syrischer Flüchtlinge, die die EU von der Türkei übernehmen könnte. Osteuropäische EU-Länder sperren sich gegen eine Verteilung jener, die bereits in der EU angekommen sind. Parlamentspräsident Schulz spricht von einer Spaltung der EU.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.12.2015)