Flüchtlingskrise: „Nein, wir schaffen es nicht“

EU-RATSPR�SIDENT TUSK IM MBUNDESKANZLERAMT
EU-RATSPR�SIDENT TUSK IM MBUNDESKANZLERAMT(c) APA/HANS KLAUS TECHT
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Ratspräsident Tusk besuchte auf seiner Reise durch die Länder der Balkanroute zuerst Wien. Er lotete bei Faymann Kompromisse für den EU-Gipfel aus.

Wien. Eindeutiger hätte Werner Faymanns Botschaft an die deutsche Kanzlerin nicht ausfallen können – war sie doch gleichermaßen als Kampfansage für den EU-Sondergipfel zur Flüchtlingskrise am kommenden Montag zu verstehen: „Nein, wir schaffen das nicht. Ich würde die Menschen belügen, wenn ich sage, wir können so weitermachen wie im letzten Jahr“, so der Kanzler. Im Klartext: Österreich wird – auch gegen die Kritik aus Berlin – an der jährlichen Obergrenze von 37.500 Asylanträgen ebenso festhalten wie an der rigorosen Grenzpolitik auf dem Balkan. Sein Land sei „mit gutem Beispiel vorangegangen“, habe 2015 90.000 Flüchtlinge aufgenommen, betonte der Kanzler nach einem Gespräch mit EU-Ratspräsident Donald Tusk am Dienstag in Wien. Nun aber müsse „das Durchwinken“ ein Ende haben.

Faymann forderte Deutschland in einem „Kurier“-Interview auf, Flüchtlinge künftig direkt aus Griechenland und den Nachbarstaaten Syriens aufzunehmen. Österreich könne nicht als „Warteraum“ fungieren. Merkel lehnte das am Dienstag allerdings dezidiert ab. Sie sprach sich ebenfalls gegen ein Ende des Durchwinkens aus. Auch Deutschland könne nicht mehr so agieren wie im vergangenen September.

In einem Punkt sind sich Merkel und Faymann einig: Oberste Priorität bleibt für beide eine europäische Lösung mit dem gemeinsamen Schutz der Außengrenzen. Auch Tusk, der auf seiner Reise durch mehrere Länder der Balkanroute – neben Österreich besucht der Pole in den kommenden Tagen Slowenien, Kroatien, Mazedonien, Griechenland und die Türkei – Kompromisslinien für das Ratstreffen auslotet, sieht zum gesamteuropäischen Ansatz keine Alternative. Dabei dürfe „keiner ausgeschlossen“ werden, mahnte er allerdings in Richtung Österreich und spielte auf die aktuelle diplomatische Kontroverse zwischen Wien und Athen wegen der Nichteinbeziehung Griechenlands in die Verhandlungen mit den Ländern der Balkanroute an.

25.000 Migranten sitzen derzeit laut Regierungsangaben in Griechenland fest, und es werden täglich mehr: Seit Jahresbeginn haben bereits 122.000 Flüchtlinge von der Türkei in das südliche EU-Land übergesetzt; Mazedonien lässt laut Athener Regierungskreisen nur noch „einige Dutzend“ täglich passieren.

Kommission präsentiert Nothilfeplan

Die griechische Regierung rechnet damit, dass bereits in den kommenden Tagen mehr als 100.000 Menschen auf dem Weg nach Nordeuropa in Griechenland stranden könnten. Athen beantragte deshalb ein Hilfspaket in Höhe von 470 Millionen Euro. Am heutigen Mittwoch will die Kommission einen Plan mit Notmaßnahmen präsentieren, um eine „humanitäre Krise“ zu verhindern: Laut „Wall Street Journal“ könnte das Paket insgesamt 700 Millionen Euro umfassen.

Das Geld soll demnach in den kommenden drei Jahren vor allem in das überlastete Griechenland fließen – könnte aber auch anderen Ländern innerhalb der EU zugute kommen. Die Zeit drängt, denn die Situation an der griechisch-mazedonischen Grenze gerät zusehends außer Kontrolle: Am Montag haben mehrere Hundert Flüchtlinge den Zaun bei Idomeni gestürmt, mazedonische Grenzwächter haben mit Tränengas reagiert. Die EU-Kommission zeigte sich gestern „sehr besorgt“ angesichts der Bilder. „Die Szenen, die wir gesehen haben, sind nicht unsere Vorstellung vom Krisenmanagement“, sagte ein Sprecher der Behörde.

Die Hoffnungen in Brüssel ruhen nach wie vor auf einem Deal mit der Türkei, der in Grundzügen ja schon im vergangenen November geschlossen wurde. Ankara verpflichtete sich dabei zu einer verstärkten Grenzsicherung, um die ungesteuerte Einwanderung zu beenden. Im Gegenzug sollen die Mitgliedstaaten Kontingentflüchtlinge aus der Türkei übernehmen, auch Visaerleichterungen für türkische Staatsbürger werden verhandelt. Bisher aber bleibt Ankara die drastische Reduzierung der Flüchtlingszahlen bekanntermaßen schuldig. Tusk dürfte bei einem Treffen mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan Ende der Woche die Gründe dafür erörtern.

(aga, ag.)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.03.2016)

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