Ankara will alle Vorgaben für die Gewährung der Visafreiheit bereits am 1. Mai erfüllen. Die Zahl der Flüchtlinge in Griechenland nimmt weiter zu.
Brüssel. Die Zeit wird langsam knapp: Am Donnerstag kommender Woche wollen die Staats- und Regierungschefs der EU mit der Türkei einen Pakt zur Entschärfung der Flüchtlingskrise schließen – die Eckpunkte des Abkommens wurden am vergangenen Montag in Brüssel fixiert. Doch innerhalb des abgesteckten Rahmens warten noch zahlreiche Fragen auf ihre Beantwortung – ihre Zahl nimmt tendenziell eher zu als ab.
Kopfzerbrechen bereitet etwa die Tatsache, dass die Zahl der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge und Migranten trotz Nato-Mission vor der türkischen Küste und der faktischen Schließung der Balkanroute nach Mitteleuropa (siehe auch Seiten 2 und 3) weiter zunimmt. Allein am Mittwoch zählte das UN-Flüchtlingshilfswerk 3340 Neuankömmlinge auf den griechischen Inseln. Die Versorgung der Flüchtlinge in Griechenland droht zusammenzubrechen, noch bevor das Abkommen mit Ankara zu greifen beginnt – sofern es überhaupt getroffen wird.
Tusk tweetet, Tsipras zürnt
Athen, das sich durch die De-facto-Schließung der mazedonisch-griechischen Grenze mit einem Flüchtlingsrückstau konfrontiert sieht, fürchtet nun eine Verschlimmerung der ohnehin dramatischen Situation im Land. Ein Tweet von Ratspräsident Donald Tusk, der sich bei den Balkanländern für die Sperre bedankt hatte, brachte das Fass in Griechenland schließlich zum Überlaufen: „Europa hat keine Zukunft, wenn es so weitermacht“, mahnte Premier Alexis Tsipras.
Dass die Sperre der Balkanroute nicht der Weisheit letzter Schluss ist, wissen alle Beteiligten: Tatsächlich dürften sich die Flüchtlingsströme in naher Zukunft auf Ausweichrouten verlagern. Die wahrscheinlichste Alternative führt über Albanien, von wo aus die Migranten versuchen könnten, über die Adria nach Italien zu gelangen. Rom ist bereits in Alarmbereitschaft: Innenminister Angelino Alfano kündigte gestern an, mit Tirana eine Krisensitzung abhalten zu wollen.
Am Donnerstag versuchten die in Brüssel versammelten Innenminister der EU, möglichst viele Antworten auf die vorhandenen offenen Fragen zu finden. Die wohl wichtigste betrifft das Kernelement des türkisch-europäischen Abkommens: die geplante Abschiebung aller Neuankömmlinge in die Türkei – im Gegenzug soll die EU syrische Flüchtlinge direkt aus der Türkei übernehmen. Der deutsche Ressortchef, Thomas de Maizière, bestätigte gestern, dass in der Tat „diejenigen, die mithilfe von Schleppern gekommen sind, nicht diejenigen sind, die nach Europa kommen“. Der Haken: Da die Türkei ihrerseits die Genfer Flüchtlingskonvention nur auf Europäer und Syrer, nicht aber auf Afghanen oder Eritreer anwendet, könnte das Vorhaben illegal sein. Alle rechtlichen Unklarheiten würden bis zum EU-Gipfel kommende Woche beseitigt sein, versprach de Maizière.
Bis dahin müssen sich die Europäer auch klar sein, ob sie der Türkei Visafreiheit gewähren wollen. Von der 72 Punkte umfassenden Checkliste hat Ankara dem Vernehmen nach rund die Hälfte abgearbeitet. Ursprünglich wollte die EU-Kommission im Herbst darüber befinden, ob die Türkei alle Voraussetzungen für die Abschaffung der Visapflicht erfüllt – auf Druck Deutschlands wurde dieser Termin auf Juni vorgezogen. Doch dem türkischen Staatschef, Recep Tayyip Erdoğan, dürfte auch das nicht ausreichen.
Wie de Maizière gestern berichtete, will die türkische Regierung alle Vorgaben der EU bis 1. Mai erfüllen. Für diejenigen, die dem Vorhaben kritisch gegenüberstehen (zu den Skeptikern zählt unter anderem Frankreich), hatte der deutsche Innenminister gestern eine klare Botschaft: „Es liegt nicht an den einzelnen Staaten zu beurteilen, ob die Kriterien erfüllt sind.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.03.2016)