Der geheime, zweite Deal mit der Türkei

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Wenn es der Türkei gelingt, die Zuwanderung nach Griechenland zu stoppen, soll die EU dem Land weiterhin bis zu 330.000 Syrer pro Jahr abnehmen – allerdings nur von Ländern, die dazu freiwillig bereit sind.

Gevgelija/Brüssel. Am Donnerstag und Freitag wollen sich die EU und die Türkei auf ein Abkommen zur Lösung der Flüchtlingskrise einigen. Der wichtigste Teil der geplanten Maßnahmen ist bisher noch gar nicht publik: Es geht um die Übernahme Hunderttausender Flüchtlinge, unabhängig von allen derzeit bereits veröffentlichten Plänen.

Bisher ging es allein um die Zauberformel „ein Syrer für einen Syrer“ – jeder, der in Griechenland ankommt, soll in die Türkei zurückgeschickt werden, dafür ein anderer Syrer aus türkischen Flüchtlingslagern in die EU einreisen dürfen. Das ist aber nicht das Wesentliche, sagt Gerald Knaus, Gründer und Leiter des Thinktanks European Stability Initiative (ESI). Im Hintergrund sei eine viel radikalere Idee bereits weitgehend ausgehandelt und werde vermutlich „sehr bald“ bekannt gegeben, kündigt Knaus im Gespräch mit der „Presse“ an. Nämlich, dass die EU oder eine „Koalition der Willigen“ Hunderttausende Flüchtlinge zusätzlich übernimmt, unabhängig von der Eins-zu-eins-Formel.

„900 pro Tag“ sei eine realistische Zahl, so Knaus. Unabhängig davon, ob und wie viele Syrer nach Griechenland übersetzen. Das würde 330.000 Menschen im Jahr bedeuten. Eine Zahl, die Europa verkraften könne und die Türkei spürbar entlasten würde, meint Knaus, der seit Monaten alle relevanten Akteure in der Flüchtlingskrise berät. Er selbst präsentierte im vergangenen September einen Plan, der die Übernahme von jährlich 500.000 Flüchtlingen aus der Türkei vorsah. Der sogenannte „türkische Vorschlag“ ist letztlich eine Variante dieser Idee.

Befürworter sehen in dem Vorhaben die beste Chance für eine nachhaltige Lösung der Flüchtlingskrise. Vor allem werde die Sogwirkung Griechenlands auf Flüchtlinge abgeschaltet. Denn wer nach Griechenland geht, kommt dann in die Türkei zurück und muss sich dort hinten anstellen. Mit anderen Worten: Es wird leichter sein, aus einem türkischen Lager nach Europa zu kommen als über Griechenland.

Die Eins-zu-eins-Formel würde die Türkei nur um wenige Tausend syrische Flüchtlinge entlasten. Da dieser Effekt viel zu klein wäre, hat man sich parallel dazu eine Umsiedlung von Hunderttausenden ausgedacht – als separates Programm. Dies wurde bereits in einem „Presse“-Interview mit dem türkischen EU-Botschafter in Brüssel, Selim Yenel, bestätigt. Yenel sagte, Ankara würde nach einem Stopp der Route über Griechenland „mit einer Fortsetzung der Umsiedlung von Flüchtlingen in die EU“ rechnen. „Allerdings auf freiwilliger Basis.“ Deutschland, Schweden und weitere Länder seien dazu bereit. Österreich wurde nicht genannt.

Zur Vorbereitung des heutigen Gipfels in Brüssel legte die EU-Kommission am Donnerstag dar, wie sie sich den Deal mit der Türkei rechtlich vorstellt. Das – wenig überraschende – Fazit des Ersten Kommissionsvizepräsidenten, Frans Timmermans: Alles werde „innerhalb des durch Völkerrecht und EU-Recht vorgegebenen Rahmens geschehen“. Diese Ansage war an jene gerichtet, die Zweifel daran geäußert hatten, ob die Abschiebung aller Neuankömmlinge – sowohl Migranten als auch Flüchtlinge – rechtskonform sei. Für Timmermans ist dieses Kernelement des Pakts eine „vorübergehende besondere Maßnahme“, mit der Schleppern die Existenzgrundlage entzogen werden soll.

Recht auf Asyl ist ein Individualrecht

Doch die Eins-zu-eins-Formel hat einige Schwachstellen. Das offensichtlichste Problem: Das Recht auf Asyl ist ein Individualrecht, das pauschale Abschiebungen nicht gestattet. Die Brüsseler Behörde will dieses Problem umschiffen, indem Griechenland erstens seine Asylverfahren drastisch beschleunigt (am Donnerstag war von maximal einigen Tagen für Verfahren samt Berufungsmöglichkeit die Rede) und zweitens, indem die Türkei zum sicheren Herkunfts- bzw. Drittstaat erklärt wird. Aus der Perspektive der Kommission kommt jeder aus Griechenland abgeschobene Flüchtling ohnehin in den Genuss internationalen Schutzes – nur eben in der Türkei und nicht in der EU. De facto läuft dieser Plan darauf hinaus, die Türkei zum außerordentlichen Mitglied des Dublin-Systems zu machen. Dieses besagt, dass das erste EU-Mitglied, das ein Flüchtling erreicht, für die Abwicklung des Asylverfahrens zuständig ist. Die Brüsseler Behörde wollte ursprünglich gestern ihre Vorschläge zur Reform des Dublin-Systems vorlegen – dies wurde nun um einige Wochen verschoben.

Damit die Eins-zu-eins-Formel greift, muss die Türkei allerdings ihrerseits auch ihr Recht adaptieren, denn bis dato gewährt sie nur Europäern und Syrern Schutz. Bevor also die Griechen beispielsweise Afghanen oder Eritreer in die Türkei abschieben können, muss sich Ankara dazu bereit erklären, den Abgeschobenen „adäquaten Schutz“ zu gewährleisten. Für die Überprüfung dieser Schutzzusage fühlt sich die Brüsseler Behörde übrigens nicht verantwortlich, das sei Sache der zuständigen – sprich türkischen – Gerichte.

Aus Berliner Regierungskreisen hieß es gestern dazu, dass nicht syrische Flüchtlinge künftig die Chance hätten, im Zuge des im Juli 2015 vereinbarten Resettlement-Programms nach Europa zu kommen. Der Haken: Von den gut 22.000 vorgesehenen Plätzen sind derzeit noch rund 18.000 übrig – und diese 18.000 Plätze sollen nach den Plänen der Kommission im Rahmen der Eins-zu-eins-Formel mit syrischen Flüchtlingen gefüllt werden. Hinzu kommen 54.000 Plätze, die im Rahmen des im September fixierten EU-internen Umsiedlungskontingents von 160.000 nicht zugewiesen wurden. Der Eins-zu-eins-Plan kann also maximal 72.000 Syrer umfassen. Nicht-Syrer, die in die EU wollen, bleiben zwangsläufig auf Dienste der Schlepper angewiesen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.03.2016)

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