"Should I stay or should I go now?"

(c) Bloomberg (Chris Ratcliffe)
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Ein Königreich probt den Aufstand. Im Referendum geht es um mehr als um Großbritanniens EU-Mitgliedschaft. Auf dem Spiel steht die Zukunft des Landes - ganz unabhängig vom Ausgang. ON

Die EU-Volksabstimmung in Großbritannien am Donnerstag ist die wichtigste geopolitische Entscheidung seit dem Fall der Berliner Mauer. Ein Ausscheiden würde aller Voraussicht nach eine Abspaltung Schottlands und den Zerfall des Vereinigten Königreichs (UK) herbeiführen. In Europa wäre der Prozess der fortschreitenden Integration nicht nur unterbrochen, sondern in akuter Gefahr, durch eine Zerfallsdynamik abgelöst zu werden. Nicht umsonst sagt Donald Tusk, der Präsident des Europäischen Rats: „Ich fürchte, ein Brexit könnte der Anfang der Zerstörung nicht nur der EU, sondern der gesamten westlichen politischen Zivilisation sein.“

Wenn so viel auf dem Spiel steht, fragt man sich, warum der britische Premier David Cameron dieses Risiko einging, als er im Jänner 2013 eine Neuregelung des Verhältnisses zur EU ankündigte und dann versprach: „Es ist Zeit für das britische Volk, seine Meinung zu äußern.“ In Wirklichkeit ging es Cameron darum, die Europa-Gegner in seiner konservativen Partei ein für allemal zum Schweigen zu bringen. Das tat er nicht, indem er sie herausforderte, sondern ihnen Zugeständnisse machte. Die Entscheidung für eine Volksabstimmung hatte „allein damit zu tun, dass Cameron die Tory Party befrieden musste und nichts mit dem nationalen Interesse des Landes“, sagt der Politikprofessor Tim Bale von der Queen Mary University of London.

Der Premier durfte sich gleichwohl in Sicherheit wähnen, denn zum damaligen Zeitpunkt – und bis vor wenigen Wochen – lag die Frage der EU-Mitgliedschaft unter den zehn größten Sorgen der Briten abgeschlagen auf Platz acht. Große Begeisterung verspürten die Briten für die Gemeinschaft nie. Aber sie hatten damit zu leben gelernt. Für den Mann von der Straße ist Europa vor allem eine Urlaubsdestination mit höherem Lebensstandard als die Heimat und der Herkunftsort von Qualitätsprodukten.

Das Land trat 1973 nach einigen Fehlstarts der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei. Eine Liebeshochzeit war es nicht. Aber objektiv betrachtet hat Großbritannien profitiert: Vom „kranken Mann Europas“ stieg das Land zur fünftgrößten Wirtschaftsnation der Welt auf. Das Bruttonationalprodukt wuchs in diesen 43 Jahren kräftiger als in Deutschland oder Frankreich. Seit den 1990er-Jahren hat sich Großbritannien erfolgreich Sonderrechte (opt-outs) gesichert, etwa mit der Ablehnung des Euro.

Eine Überprüfung der Kompetenzverteilung zwischen London und Brüssel kam zu dem Schluss, dass „in Summe die Mitgliedschaft in der EU für Großbritannien vorteilhaft ist“. Dennoch agieren die Europa-Gegner wie die Verschwörer in der Szene des Monty-Python-Films „Das Leben des Brian“, in der es heißt: „Und abgesehen von Sanitäranlagen, Medizin, Bildungswesen, Wein, öffentlicher Ordnung, Bewässerung, Straßenbau, Wasserversorgung und Gesundheitswesen – was haben die Römer jemals für uns getan?“

Die Hand, die einen füttert, liebt man nicht. Die Ablehnung der EU ist in Gebieten wie Cornwall, die überproportional viel Förderung aus den Unionstöpfen erhalten, oder unter Sektoren wie der Landwirtschaft, die den Großteil ihres Einkommens aus der Gemeinschaftskasse beziehen, besonders hoch.

Es sind nicht Fakten, sondern Wahrnehmungen und Emotionen, die das britische EU-Referendum entscheiden werden. Denn es geht nicht um die EU, sondern darum, wofür die EU steht und wer für sie eintritt. Das ist vor allem eine vollkommen diskreditierte politische Klasse. Vom Irak-Krieg 2003 über den Spesenskandal 2009 bis zu radikalen Sozialkürzungen reicht das Register. Als den Politikern nach der Wirtschaftskrise 2008 die Mittel ausgingen, um Wohltaten zu verteilen und sie nach amtlichen Angaben 1,162 Billionen Pfund in die Rettung der Banken steckten, wurde der Konsens zwischen Politikern und Volk – Stimme gegen Leistung – begraben.

Das Schottland-Referendum 2014 war ein erster Vorbote eines neuen politischen Zeitalters, die Wahl des linken Außenseiters Jeremy Corbyn zum Labour-Chef im September ein weiteres Anzeichen. Und die EU-Kampagne ist ein noch stärkeres. Die regierende Garde – egal, ob Regierung oder Opposition – hat ausgedient. Es gibt einen ungeheuren Ärger im Land, und dieser lässt sich instrumentalisieren.

Das machen die EU-Gegner, indem sie Europa zur Projektionsfläche für alles machen, was Besorgnis erregt, schiefläuft oder vielleicht einmal besser war. Von einem „Bündnis aus jenen, die es sich leisten können, etwas zu verlieren, und jenen, die nichts zu verlieren haben“, spricht Simon Tilford vom Centre for European Reform. Es herrscht große Angst vor rasanter Veränderung, um die niemand gebeten hat und die dennoch Alltag ist. Großbritannien ist das EU-Land mit den wenigsten Regulierungen. Doch was die Wirtschaft als Standortvorteil preist, kommt die Menschen teuer. Es herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Um mitzuhalten, muss man wie der Hamster im Rad ständig in Bewegung bleiben. Wer stürzt, bleibt auf der Strecke.

Die massive Einwanderung hat keinen Briten einen Job gekostet. Aber der Druck ist weiter gestiegen. Und die Immigration von mehr als drei Millionen Menschen in zehn Jahren hat tiefe Veränderungen gebracht. Wie in dem Roman „Capital“ von John Lanchester haben sich seit Jahrzehnten unberührte viktorianische Straßenzüge innerhalb von Monaten radikal gewandelt: Plötzlich scheint es überall ausländische Geschäfte zu geben, fremde Sprachen und unbekannte Autokennzeichen. Nicht alle kommen damit zurecht.

Dass die Politiker den Briten erklären, die Einwanderung sei vorteilhaft, gilt nur als weiterer Beweis für ihre Abgehobenheit. Es ist eine riesige Kluft entstanden, die andere für sich ausnützen. „Wenn wir das Referendum zu einer Auseinandersetzung zwischen Establishment und Volk machen, gewinnen wir. Haushoch“, sagt Matthew Elliott, der Leiter der Brexit-Kampagne. Kein Thema eignet sich besser als die Einwanderung, in der sich alle Ängste und Beschwerden kristallisieren. Als die EU-Gegner diese Frage aufgriffen, gewann ihre Kampagne an Fahrt.

Dabei ist auch das Problem der Masseneinwanderung vor allem hausgemacht. In einer Mischung aus Ignoranz und Arroganz verzichtete Großbritannien 2004 auf Übergangsfristen beim Zugang zum Arbeitsmarkt. Der riesige Druck auf Wohnraum und Infrastruktur ist auf radikale Kürzungen der Regierung zurückzuführen. Dieselben Politiker, die sich immer als Protagonisten des freien Markts (die Brexit-Anführer Boris Johnson und Michael Gove) gaben, rufen nun nach Grenzkontrollen und Zutrittsbeschränkungen.

Die Wahrheit hat in der Politik aber ausgedient. Wie die USA mit Donald Trump erlebt Großbritannien mit der aktuellen Debatte den Eintritt in die Ära der „post-truth politics“. Der Unverschämteste ist ab jetzt König. Wichtig sind nicht Fakten, wichtig ist die Zustimmung des Publikums, am besten durch Lacher. Wer am lautesten schreit, wird gehört. Wer widerspricht, muss erst einmal die Lüge des anderen wiederholen, um sie richtigzustellen – und hat damit bereits verloren. Genau dieses Spiel betreibt das Brexit-Lager mit der Falschaussage um den britischen EU-Beitrag.

Statt Fakten zu präsentieren und zu diskutieren, wie im Schottland-Referendum, wird jetzt vor allem Ärger zu Zorn hochgepeitscht. Beflügelt davon schien Großbritannien bis zum Mord an der Labour-Abgeordneten Jo Cox unaufhaltsam in Richtung EU-Austritt unterwegs. Auch wenn das Land jetzt noch zur Besinnung kommen sollte, die Probleme bleiben. Frei nach der Punkband The Clash: „Should I stay or should I go now?/If I stay there will be trouble/An' if I go it will be double.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.06.2016)

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