Paris und Berlin starten EU-Rettungsversuch

Frankreichs Präsident, François Hollande, und die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel: „Jetzt nicht die Fliehkräfte in      Europa stärken, sondern die Kräfte des Zusammenhalts.“
Frankreichs Präsident, François Hollande, und die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel: „Jetzt nicht die Fliehkräfte in Europa stärken, sondern die Kräfte des Zusammenhalts.“ (c) APA/AFP/POOL/VINCENT KESSLER
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Deutschlands Kanzlerin Merkel kündigt nach Treffen mit Frankreichs Präsident und Italiens Premier „neue Impulse“ für Europa an.

Wien/Berlin/Paris. Nun ruhen alle Hoffnungen auf ihren Schultern. Der erste Schock über das britische Austrittsvotum ist überwunden, die Zeit für einen Neustart der Union – soweit besteht unter den Mitgliedstaaten Einigkeit – überreif. Dass der Anstoß für einen solchen Schritt nur unter enger Zusammenarbeit der beiden größten EU-Länder, Deutschland und Frankreich, gelingen kann, erscheint angesichts der dramatischen Ausgangslage logisch: Durch den angekündigten Brexit verschiebt sich das EU-interne Machtgefüge noch einmal deutlich zugunsten von Berlin wie auch Paris.

Jetzt müsse alles getan werden, „nicht die Fliehkräfte in Europa zu stärken, sondern die Kräfte des Zusammenhalts“, betonte die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, zu Wochenbeginn. Am gestrigen Montagabend traf sie sich mit François Hollande und dem italienischen Ministerpräsidenten, Matteo Renzi, in Berlin. Merkel kündigte danach „neue Impulse“ für Europa in den Bereichen Sicherheit und Wirtschaftswachstum an. Das Trio bereitete den EU-Gipfel vor, der heute, Dienstag, beginnt. Der scheidende britische Premier, David Cameron, reist diesmal nur für wenige Stunden nach Brüssel: Am morgigen Mittwoch tagen die verbleibenden 27 EU-Staatenlenker unter sich. Dabei wird es um den künftigen Umgang mit dem abtrünnigen Mitglied gehen (siehe Seite 4) – aber eben auch darum, wie das taumelnde Schiff der Staatengemeinschaft langfristig in eine sichere Zukunft gelenkt werden kann.

Zumindest auf dem Papier haben die Außenminister aus Berlin und Paris, Frank-Walter Steinmeier und Jean-Marc Ayrault, ihren Amtskollegen aus den übrigen vier Gründerstaaten Niederlande, Belgien, Luxemburg und Italien am Wochenende bereits ambitionierte Vorstellungen dazu präsentiert. Ein neunseitiges Strategiepapier der beiden Sozialdemokraten nennt drei Kernbereiche, in denen die Union künftig enger zusammenwachsen soll: die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die Migrationspolitik sowie die Wirtschafts- und Währungsunion. Deren Vollendung bedeute „eine intensivere politische Zusammenarbeit und eine finanzielle Lastenteilung“, heißt es in dem Text. Nicht neu ist der Vorschlag für eine „Fiskalkapazität“, die konjunkturbedingte Zahlungen von einem Euromitglied zu einem anderen vorsieht. Sie soll „die makroökonomische Stabilisierung der Eurozone gewährleisten, unter Vermeidung dauerhafter Transfers in nur eine Richtung“. Die weitreichenden Pläne hat Steinmeier offenbar nicht mit seiner Regierungschefin abgesprochen: Merkel erteilte einer Vertiefung der Eurozone als Reaktion auf den Brexit bei Gesprächen des CDU-Parteivorstands Teilnehmerangaben zufolge eine Absage.

Schwierige Entscheidungsfindung

Auch zu Punkt eins und zwei haben die Minister konkrete Vorstellungen, die an der Wirklichkeit der schwierigen Entscheidungsfindung in der Union zu zerschellen drohen. So fordern sie die Bildung des „weltweit ersten multinationalen Grenz- und Küstenschutzes“, um die gemeinsame Kontrolle der EU-Außengrenze zu gewährleisten – und so die während der Flüchtlingskrise wieder eingeführten Binnengrenzkontrollen obsolet zu machen. Da die EU-weite Umverteilung von Flüchtlingen bisher nicht funktioniert hat, pochen Steinmeier und Ayrault einmal mehr auf ein europäisches Asylsystem. Deutschland und Frankreich erklären sich wenn nötig bereit, „mit einer Gruppe gleich gesinnter Länder voranzugehen“. Dieser gemeinsame Vorschlag ist umso bedeutsamer, als das Verhältnis zwischen Berlin und Paris in den vergangenen Monaten gerade wegen der Flüchtlingskrise einer starken Belastungsprobe unterzogen wurde: Von Beginn der Krise an hatte Merkel mit ihrem „Wir schaffen das“-Mantra bekanntlich nur wenige Mitstreiter. Frankreich – froh, nicht zu den hauptbetroffenen EU-Ländern zu zählen – hielt sich mit Beistand für die deutsche Position zunächst auffällig im Hintergrund. Doch der Frust war auch auf französischer Seite hoch. Die dominante Rolle Berlins wurde als enervierend wahrgenommen.

Hinzu kommt, dass Hollande mit seinen konstant schlechten Popularitätswerten wenig Spielraum hat: Die Rechtspopulisten des Front National sitzen dem Sozialisten im Nacken, für die Präsidentenwahlen 2017 hat deren Chefin Marine Le Pen in allen Umfragen die Nase vorn. Auch die verheerenden Terroranschläge in Paris vom November haben nicht gerade dazu beigetragen, dass sich in der Bevölkerung eine flüchtlingsfreundliche Stimmung breitmacht. Nun dürfte der Sozialist dennoch den Schulterschluss mit Merkel üben, um der deutsch-französischen Achse neue Kraft zu verleihen. Beide müssen dabei aufpassen, dass sich nicht eine weitere Kluft in der EU auftut: Das exklusive Gipfelvortreffen mit Renzi wurde in einigen Mitgliedstaaten argwöhnisch verfolgt.

AUF EINEN BLICK

Als Antwort auf den Brexit haben die Außenminister Deutschlands und Frankreichs weitreichende Vorschläge für eine engere Zusammenarbeit in der EU gemacht. In einem gemeinsamen neunseitigen Papier fordern sie einen Pakt für eine viel engere Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten bei der inneren und äußeren Sicherheit, eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik sowie die Vervollständigung der Wirtschafts- und Währungsunion.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.06.2016)

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