Großbritannien/EU: Auf der Suche nach Freunden

Die britische Premierministerin, Theresa May, kann im Gremium der EU-Mitgliedstaaten vor allem auf die Nordeuropäer zählen.
Die britische Premierministerin, Theresa May, kann im Gremium der EU-Mitgliedstaaten vor allem auf die Nordeuropäer zählen.(c) APA/AFP/JUSTIN TALLIS
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Eine Studie kommt zum Schluss, dass die wichtigsten Verbündeten der Briten nach dem Brexit Schweden, Dänemark und die Niederlande sein werden - doch ihr Einfluss auf die Europapolitik wird schwinden.

Brüssel/Wien. Noch ist das Scheidungsverfahren zwischen Großbritannien und dem Rest der Europäischen Union nicht offiziell eröffnet, doch bereits jetzt machen sich die Entscheidungsträger in Whitehall Gedanken darüber, wie sie die künftigen Beziehungen Großbritanniens zur Außenwelt anlegen wollen. Während Brexit-Befürworter Liam Fox mit der Suche nach Handelspartnern in Übersee betraut wurde, versucht Premierministerin Theresa May die Kontakte zu Verbündeten in der EU zu pflegen. In einem Telefongespräch mit ihren niederländischen und dänischen Kollegen, Mark Rutte und Lars Lokke Rasmussen, versicherte May am Dienstag, dass London den EU-Austrittsprozess erst im kommenden Jahr einleiten werde, um allen Beteiligten Zeit zu geben, sich auf den Brexit vorzubereiten. Beide Gesprächspartner haben nach Auskunft der britischen Regierungskanzlei ihre Kooperationsbereitschaft versichert.

Dass May ausgerechnet Rutte und Rasmussen angerufen hat, ist kein Zufall, denn die Niederlande und Dänemark zählen zu den wichtigsten Alliierten Großbritanniens – und ihre Bedeutung wird nach dem EU-Austritt noch zunehmen. Zu diesem Schluss kommt jedenfalls die Brüsseler Ideenschmiede VoteWatch Europe, die untersucht hat, auf welche Partner Großbritannien nach dem Brexit zählen kann. Zu diesem Zweck haben die Studienautoren das Stimmverhalten der EU-Mitgliedstaaten im Rat unter die Lupe genommen, um die größten thematischen Überschneidungen zwischen Großbritannien und dem Rest der EU zu ermitteln.

Ihr Fazit: Inhaltlich waren bisher die Schweden, Dänen und Niederländer den Briten am nächsten. Mit Deutschland, das Großbritannien ungern ziehen lässt, gab es wiederholte Auffassungsunterschiede hinsichtlich der ökonomischen Integration der EU und der Personenfreizügigkeit. Die liberalen, wirtschafts- und wettbewerbsfreundlichen nordeuropäischen Ratsmitglieder seien folglich die „natürlichen ersten Anlaufstellen für britisches Lobbying nach dem Brexit“.

Das Problem mit dieser Ausrichtung ist allerdings, dass der EU-Austritt die fein austarierte Gewichtung im Rat durcheinanderbringen dürfte. VoteWatch hat mehr als 100 EU-Insider in europäischen Institutionen, nationalen Regierung und Thinktanks über Auswirkungen des Brexit auf Europa befragt – unter den Experten herrscht Konsens darüber, dass das Ausscheiden Großbritanniens die Durchsetzungsfähigkeit der Nordeuropäer beeinträchtigen wird. In den EU-Gremien werden demnach – wenig überraschend – Berlin und Paris an Einfluss gewinnen. Unter dieser Entwicklungen leiden dürften vor allem jene Projekte, die den Briten bis dato am Herzen gelegen waren: das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP (siehe unten) sowie die gesamte EU-Agenda der wirtschaftlichen Deregulierung. Die EU, mit der die Briten nach ihrem Austritt zu tun haben werden, wird weniger liberal und in sich gekehrt sein.

Khan will Wahlen abwarten

Der Londoner Bürgermeister, Sadiq Khan, hat die Zeichen der Zeit bereits erkannt: In einem Interview mit „Sky News“ plädierte er dafür, den Artikel 50 der EU-Verträge, der den zweijährigen Austrittsprozess aus der EU offiziell einleitet, erst nach der Präsidentenwahl in Frankreich und der Bundestagswahl in Deutschland einzuleiten – also frühestens im Herbst 2017. Der Hintergedanke: Nach geschlagenen Wahlen würden die Regierungen in Paris und Berlin eher zu Zugeständnissen bereit sein. Handelt Großbritannien zu rasch, wird dies Arbeitsplätze kosten, warnte Khan.

Doch zurück zur Suche nach Freunden: Während auf zwischenstaatlicher Ebene der Frontverlauf relativ klar ist, wird das Europaparlament nach Ansicht von VoteWatch zu einer Herausforderung für die Briten. Das Hohe Haus der EU wurde in den vergangenen Jahren kontinuierlich aufgewertet und ist mittlerweile in den meisten Fällen mitentscheidungsberechtigt. Aufgrund der Tatsache, dass der zurückgetretene Premier David Cameron die Tories nach der Europawahl 2009 aus der größten EU-Parteienfamilie, der Europäischen Volkspartei (EVP), herausgeführt und eine eigene Gruppierung – die Europäischen Konservativen und Reformer (ECR) – gegründet hat, fehlt der britischen Regierungspartei ein Forum zum Meinungsaustausch mit Gleichgesinnten, beispielsweise der deutschen CDU. Denn nach dem Brexit wird die ECR von einer einzigen Partei dominiert werden: der nationalkonservativen polnischen PiS von Jarosław Kaczyński. Und Kaczyński ist angesichts seiner Probleme mit Brüssel wegen der Aushöhlung der polnischen Rechtsstaatlichkeit ein denkbar schlechter Partner.

AUF EINEN BLICK

VoteWatch Europe hat untersucht, auf welche EU-Partner Großbritannien im Laufe der vergangenen Jahre zählen konnte. Fazit der Studie: Die größten inhaltlichen Überschneidungen im Rat gab es mit Dänemark, Schweden und den Niederlanden. Differenzen mit Deutschland gab es wegen der Personenfreizügigkeit und der ökonomischen Integration der EU.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2016)

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