Der Beipackzettel zum Handelspakt mit Kanada wurde für die Wallonen umgeschrieben, ihre Zustimmung blieb ungewiss. Das Hickhack ist ein Vorgeschmack auf Brexit-Verhandlungen.
Brüssel. Politischer Druck, gepaart mit Kosmetik: Diesen Ansatz wählten die europäischen Entscheidungsträger im Zusammenhang mit dem wallonischen Widerstand gegen das Freihandelsabkommen EU-Kanada (Ceta). Während Paul Magnette, der Regierungschef der französischsprachigen Region Belgiens, unter anderem von Belgiens Premier Charles Michel, ausländischen Kollegen und EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström bearbeitet wurde und in Brüssel die Staats- und Regierungschefs der EU über Ceta debattierten, feilten Donnerstagabend die Botschafter der Mitgliedstaaten an einem Kompromiss, um den Wallonen den Handelspakt doch noch schmackhaft zu machen. Nachdem Ceta fixiert ist und nicht mehr aufgeschnürt werden kann bzw. soll, ging es lediglich um Oberflächenpflege - konkret um Änderungen am berühmt-berüchtigten "Beipackzettel" zum Abkommen, der die Rechtsverbindlichkeit diverser Aspekte von Ceta erläutert. Am heutigen Freitag soll Walloniens Regionalparlament über den Kompromissvorschlag beraten, in den Abendstunden wollte Magnette belgischen Medienberichten zufolge die Neufassung (noch?) nicht akzeptieren. Ceta bleibt also eine Zitterpartie
Der Eiertanz rund um Ceta ist ein böses Omen für die Debütantin im Brüsseler Ratsgebäude: Zum ersten Mal seit ihrer Ernennung zur Regierungschefin vor drei Monaten wird Theresa May Großbritannien bei einem EU-Gipfel vertreten. Der Austritt Großbritanniens aus der Union ist zwar kein offizieller Tagungspunkt – die EU will nicht verhandeln, solange die Briten nicht ihr Austrittsgesuch gestellt haben –, informell wird der Brexit aber sehr wohl Thema sein, denn May wollte ihre Kollegen die britische Sicht der Dinge mitteilen. Man werde „weiterhin eng zusammenarbeiten“ und eine starke Rolle in der EU spielen, sagte May Donnerstagnachmittag vor dem Beginn des zweitägigen Gipfeltreffens. Wie die „Financial Times“ berichtete, will May in Brüssel klarstellen, dass Großbritannien als Noch-EU-Mitglied die Arbeitsweise der Union nicht behindern werde. Manch Gipfelteilnehmer fühlt sich nichtsdestotrotz behindert: Sollte May den britischen Austrittsantrag tatsächlich erst im kommenden März stellen, könnte er zu diesem Zeitpunkt „etwas beschäftigt“ sein, sagte Staatschef François Hollande in Anspielung auf die erste Runde der französischen Präsidentenwahl im April 2017. Allen grottenschlechten Umfragewerten zum Trotz hofft Hollande nach wie vor auf die Wiederwahl.
Alle müssen zustimmen
Doch zurück zu Ceta. Ein schlechtes Vorzeichen für die Briten ist das Hickhack um den Pakt insofern, als Großbritannien nach dem Austritt ebenfalls ein Handelsabkommen mit der EU benötigen wird, sofern es nicht den Zugang zum EU-Binnenmarkt behalten kann – wonach es angesichts der britischen Weigerung, die Personenfreizügigkeit zu akzeptieren, momentan nicht aussieht. Angesichts des hohen Grads der wirtschaftlichen Verflechtung muss man davon ausgehen, dass ein Handelspakt zwischen der EU und Großbritannien, so wie Ceta, als gemischtes Abkommen eingestuft wird – und daher nicht von der EU-Kommission allein, sondern von allen Mitgliedstaaten bewilligt werden muss. Zur Erinnerung: Die EU und Kanada verhandeln seit 2009. „Wenn wir Ceta nicht zustande bringen, dann weiß ich nicht, wie wir ein Handelsabkommen mit Großbritannien zustande bringen wollen“, sagte Handelskommissarin Malmström.
Bis dato schienen sich die Briten darauf zu verlassen, dass Deutschlands Interesse an einem ungestörten Zugang zum britischen Markt den Ausschlag geben wird. Problematisch ist diese Sichtweise insofern, als sie nur einen Teil der Verhandlungsdynamik in Betracht zieht. Sobald nämlich Großbritannien das Scheidungsverfahren einleitet, werden die Gespräche auf zwei Ebenen laufen: einerseits zwischen der EU und den Briten, andererseits im Kreis der EU-27 über die Bedingungen des Brexit – die Briten sind dann nicht mehr Subjekt, sondern Objekt. Anders ausgedrückt: Bei den internen Verhandlungen wird es nur vordergründig um Großbritannien gehen, vor allem aber um das Verhältnis der EU-27 untereinander. Die Argumente der deutschen Exporteure werden in diesem Kontext weniger Gewicht haben.
AUF EINEN BLICK
EU-Austritt. Sobald die Briten ein Austrittsgesuch nach Art. 50 des EU-Vertrags stellen, haben sie genau zwei Jahre Zeit, um die Modalitäten der Scheidung zu verhandeln. Diese Frist kann nur einstimmig verlängert werden. Kommt es innerhalb dieser Zeit zu keiner gütlichen Einigung, tritt Großbritannien automatisch aus und verliert den Zugang zum EU-Binnenmarkt. Ein Handelsabkommen EU/Großbritannien kann erst nach dem Brexit verhandelt werden.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.10.2016)