Geeintes Europa, „freiwillig, ohne Zwang“

Europa nach dem Zweiten Weltkrieg: Der sinnlosen Gewalt und gegenseitigen Abgrenzung wurde mit dem europäischen Zusammenschluss ein Ende gesetzt.
Europa nach dem Zweiten Weltkrieg: Der sinnlosen Gewalt und gegenseitigen Abgrenzung wurde mit dem europäischen Zusammenschluss ein Ende gesetzt.ILLUSTRATION: Marin Goleminov
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Die Europäische Union schloss sich nicht wegen eines äußeren Feindes zusammen, sondern wegen eines inneren. 71 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs scheint vergessen, was die Gründungsväter einst antrieb.

Erst der Schmerz ließ Sinne und Verstand erwachen. Zweimal mussten sich die europäischen Bürger in Kriege stürzen, bevor sich Mitte des vergangenen Jahrhunderts erste Elemente eines institutionalisierten Gemeinschaftssinns entwickelten. Die Geschichte der Europäischen Union ist mit den beiden Weltkriegen eng verknüpft. Sie brachten nicht nur Leid und Zerstörung, sondern letztlich auch die Erkenntnis, dass ausschließlich eine enge gegenseitige Bindung die nach Macht und Expansion strebenden Nationen des Kontinents zähmen könne. Die Gründung der Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 und die Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957 wären nicht zustande gekommen, hätten nicht ein paar wenige Männer eine Konsequenz aus ihren schmerzhaften persönlichen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus gezogen. Sie haben mit all ihrer Energie für die Überwindung historischer Feindschaften in Europa gekämpft.

Ob Robert Schuman, Jean Monnet oder Konrad Adenauer, die Gründungsväter der heutigen EU wollten den inneren Feind, den sie in einem nationalen Egoismus und in der Hetze gegen jede Andersartigkeit orteten, endgültig auslöschen. Der erste deutsche Bundeskanzler sagte damals in einer Rede vor dem Bundestag: „Ich bin der festen Überzeugung, dass, wenn dieser Anfang gemacht worden ist, wenn hier sechs europäische Länder, wie ich nochmals betone, freiwillig und ohne Zwang, einen Teil ihrer Souveränität auf ein übergeordnetes Organ übertragen, man dann auf anderen Gebieten diesem Vorgang folgen wird. Und dass damit der Nationalismus, der Krebsschaden Europas, einen tödlichen Stoß bekommen wird.“

Schulterschluss der Mächte

Während in den vorangegangenen Jahrhunderten ein Zusammenschluss der europäischen Herzogtümer, König- und Kaiserreiche immer nur dann thematisiert wurde, wenn ein äußerer Feind – meist das Osmanische Reich – Europa bedrohte, so waren es diesmal die erlebten inneren Verwerfungen, die Regierungen nun zusammenschweißten. Denn wie sollten die europäischen Staaten und ihre Bürger künftig friedlich nebenander existieren, wenn sie ihre Identifikation ausschließlich in gegenseitiger Abgrenzung und Ausgrenzung suchten? Es war die damalige französische Regierung, die als Siegermacht zu einem Schulterschluss mit dem Kriegsverlierer Deutschland bereit war. Es war aber auch der von den Nazis verfolgte erste deutsche Nachkriegskanzler Adenauer, der als kongenialer Partner der Idee eines gemeinsamen Europa offen gegenüberstand. Ohne das Aufeinanderzugehen beider Kriegsgegner wäre die EU nie entstanden.

Viele jener Persönlichkeiten, die damals Ideen für das gemeinsame Europa entwickelten, hatten selbst Verfolgung erlebt oder mussten ins Exil flüchten. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass heute ihre Ideen an neuen, anscheinend von der EU unbewältigbaren Flüchtlingswellen zu scheitern drohen. Krisen, die stets Teil der Gemeinschaft waren, drohen erstmals den Zusammenhalt der mittlerweile 28 Staaten aufzulösen.

Es besteht die reale Möglichkeit, dass die EU heute nicht an unüberwindbaren Problemen scheitert, sondern an der Unfähigkeit, einen gemeinsamen Weg zur Lösung dieser Probleme zu finden. Sie gerät an ihre Grenzen, weil sich in den Mitgliedstaaten erneut starke nationalistische Strömungen entwickelt haben, die einer europäischen Solidarität entgegenstehen. Die heutige EU hat eine Sinnkrise in den 1960er-, eine Ölkrise in den 1970er- und eine Technologiekrise in den 1980er-Jahren (Japan und die USA drohten damals Europa ökonomisch in den Schatten zu stellen) überwunden. Sie hat stets Gegenmittel gefunden – etwa im Aufbau des Binnenmarkts, in der Gründung einer gemeinsamen Währung. Aber nun ist die Idee des gemeinsamen Europa verblasst. Das Gegenmittel, wie es in der Vergangenheit immer funktioniert hat – eine noch stärkere Zusammenarbeit –, ist höchst unpopulär. Die notwendige Weiterentwicklung der EU droht an einer skeptischen Stimmung in der Bevölkerung gegenüber jeglichen neuen Vertragswerken zu scheitern.

Kulturelle Vielfalt bewahren

Ein starkes Europa wird als Bedrohung für eigene Interessen und Individualitäten wahrgenommen, obwohl das Gegenteil der Fall ist. In allen Ideen für ein gemeinsames Europa, ob sie von Victor Hugo, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi oder von Jean Monnet stammten, wurde zwischen Nationalismus und nationaler Individualität sensibel unterschieden. Es ging nicht um Gleichmacherei, sondern um das Bewahren einer kulturellen Vielfalt. Über den Anker der Wirtschaft sollten die Teilnehmerstaaten so eng aneinander gebunden werden, dass eine gegenseitige Kriegsführung verunmöglicht wird. Frankreich sollte seine Besonderheit ebenso bewahren wie Italien, Großbritannien oder später Österreich.

Der Blick aus dem Exil, den Europäer wie Willy Brandt entwickelt hatten, war von emotionalem Abstand zu nationalistischem Gedankengut, aber auch von einer Sehnsucht nach Friede, Versorgungssicherheit und Reisefreiheit geprägt. Die wichtigsten politischen Felder der heutigen EU sind nicht aus Willkür, sondern aus Bedürfnissen einer mittlerweile verstorbenen Generation entstanden. Diese besonderen Umstände der Nachkriegszeit mögen heute nicht mehr nachempfindbar sein, intellektuell sind sie für historisch gebildete Menschen aber nachvollziehbar.

Wenn Stefan Zweig in seiner „Welt von Gestern“ über eine Eposche schreibt, in der es schon einmal gelungen ist, auf diesem Kontinent in Toleranz und Friede nebeneinander zu leben, wenn er von den ersten zerstörerischen nationalistischen Strömungen berichtet, werden die Idee des gemeinsamen Europa und seine Gegenbewegungen heute noch verständlich. Wenn Richard Coudenhove-Kalergi den Ersten Weltkrieg als „Bürgerkrieg“ zwischen Europäern bezeichnet, wird offensichtlich, dass es heute nicht nur um sinnlose Ölkännchen- oder Allergenverordnungen aus Brüssel geht, sondern um ein weit höheres Ziel: ein gemeinsames Europa, das glaubwürdiger, friedlicher und sicherer als viele andere Teile der Welt weiterhin bestehen kann, wenn es nur zusammenhält. Robert Schuman schrieb einst: „Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2016)

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