Der Freihandel als Vabanquespiel

Das geplante Freihandelsabkommen mit den USA löste Proteste aus.
Das geplante Freihandelsabkommen mit den USA löste Proteste aus.imago/Reporters
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Die Zeiten, in denen die EU-Kommission im Alleingang die Handelspolitik der Union gestalten konnte, sind mit Ceta und TTIP vorbei. Die Mitgliedstaaten reden künftig mit.

Brüssel/Wien. Lange Zeit galten Handelsabkommen als staubtrockene Materie, die liebend gern Experten überlassen wurde. Die juristisch und ökonomisch hochkomplexen Übereinkünfte wurden jahrelang unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt und ohne viel Aufhebens ratifiziert – zumal in Europa Handelspolitik Sache der EU-Kommission ist, die im Namen aller Unionsmitglieder verhandelt.

2016 ist diese eingeübte Praxis an der Realpolitik zerschellt – oder besser gesagt an den zwei Klippen TTIP und Ceta. Das Hickhack um die Handelsabkommen mit den USA und Kanada erwies sich als derart toxisch, dass eine Rückkehr zum Status quo ante, als die Brüsseler Behörde im Alleingang die Handelspolitik festlegen konnte, zumindest momentan undenkbar erscheint. Für einen Paradigmenwechsel spricht auch das kurz vor Weihnachten veröffentlichte Gutachten der Generalanwältin des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Abkommen mit Singapur: Die Juristin stellte fest, dass es sich bei dem Pakt um ein sogenanntes gemischtes Abkommen handelt, das nicht nur von Rat und Europaparlament, sondern auch von allen Mitgliedstaaten separat bewilligt werden muss. Das Gutachten ist noch nicht rechtskräftig, doch in neun von zehn Fällen folgen die EuGH-Richter der Argumentationslinie ihrer Generalanwälte.

Normen und Standards

Die juristische Klarstellung erfolgte auf Gesuch der EU-Kommission, die sich Klarheit über die künftige Ausrichtung der Handelspolitik verschaffen wollte. Der Grund dafür ist derselbe, warum Ceta und TTIP derart heftige Gegenreaktionen in der deutschen und österreichischen Bevölkerung hervorgerufen hatten: Bei modernen Handelsabkommen geht es längst nicht mehr ausschließlich um Zollsenkungen, sondern vor allem um die Harmonisierung von Normen und (Sozial-)Standards. Doch Normen und Standards sind in Paragrafen gegossene Gesellschaftspolitik – sie berühren die Lebenswirklichkeit der Bürger deutlich stärker als Einfuhrzölle.

Spät, aber doch, hat die EU-Kommission die Zeichen der Zeit erkannt. Obwohl sie es nicht hätte tun müssen, deklarierte die Brüsseler Behörde den Pakt mit Kanada zu einem gemischten Abkommen. Was dazu führte, dass der französischsprachige Teil Belgiens Ceta beinahe kentern ließ. Erst nachdem die Wallonie rechtlich verbindliche Klarstellungen in Form eines „Beipackzettels“ zu Ceta erhalten hatte (und nachdem der flämischsprachige Landesteil Flandern blamiert war), stimmten die Wallonen dem Abkommen zu.

Die Causa Ceta führt vor Augen, wie leicht Handelspolitik zum Spielball der Innenpolitik werden kann. Die EuGH-Generalanwältin war sich dieser Gefahr durchaus bewusst – mögliche Schwierigkeiten bei der Ratifizierung dürfen ihr zufolge aber keinen Einfluss auf die Frage haben, wer für den Abschluss des Abkommens zuständig ist.

Dieser Befund ist insofern richtungsweisend, als angesichts der inhaltlichen Komplexität künftig de facto jedes Handelsabkommen von allen EU-Mitgliedern ratifiziert werden muss. Für die Europäer wird der Freihandel damit zum politischen Vabanquespiel: Ein einziges Nein genügt, um jahrelange Arbeit zunichte zu machen.

Lichtblicke in Fernost

Vor allem, was den Handelspakt mit den USA anbelangt, dürfte die jahrelange Arbeit vergeudet sein: Der Widerstand gegen Investorenschutz und regulatorische Zusammenarbeit ist derart massiv, dass eine Ratifizierung undenkbar erscheint – zumal mit Donald Trump bald ein Freihandelsskeptiker im Weißen Haus residieren wird. Ein böses Omen sind die Ereignisse des vergangenen Jahres auch für die Briten: Nach ihrem EU-Austritt werden sie darauf angewiesen sein, dass die Europäer rasch einem möglichst umfassenden Handelsabkommen zustimmen. Die einzigen Lichtblicke gibt es derzeit wohl im Fernen Osten: 2017 werden aller Voraussicht nach die Handelsabkommen mit Singapur und Japan zur Ratifizierung anstehen. Freihandelsfreunde müssen darauf hoffen, dass die asiatischen Handelspartner zu weit und zu exotisch sind, um den Argwohn der Freihandelsgegner zu erwecken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.12.2016)

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