Menasse: „EU ist eigentlich Supra-Österreich“

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Menasse bdquoEU eigentlich Supraoesterreichldquo(c) APA (HELMUT FOHRINGER)
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Robert Menasse über die „primitive, fehlgeleitete Notwehr“ der österreichischen EU-Ressentiments und zu den Gräben zwischen Nationalismus und Rationalismus in der europäischen Politik.

„Die Presse“:Sie waren in der Europa-Debatte sehr engagiert und sehr kritisch. Hat sich nach Ihrem Brüssel-Aufenthalt die Perspektive verändert?

Menasse: Ja. Aber ich finde die Formulierung nicht glücklich. Sie führt zu dem Missverständnis, dass ich meine Meinung geändert hätte und vom EU-Kritiker zum blinden Bewunderer geworden wäre. Die Saulus-Paulus-Schiene. Tatsächlich ist es so: Ich habe etwas dazugelernt, das ich vorher nicht gewusst hatte, und dadurch begonnen, über Fragen nachzudenken, die ich vorher nicht bedacht hatte. Ich habe immer die Demokratiedefizite der EU kritisiert: die Aufhebung der Gewaltentrennung, die beschränkten Rechte des Parlaments und so weiter – und das ist keine Ansichtssache, das sind Fakten. Davon nehme ich auch nichts zurück.

Aber es hat sich die Grundlage Ihrer Kritik verändert?

Menasse: Die Prämisse hat sich geändert, ja. Ich bin erst hier in Brüssel, während meiner Recherchen in den EU-Institutionen, auf den Gedanken gekommen, dass die Messlatte die falsche ist: Der Demokratiebegriff, den wir in der Kritik und in der Diskussion voraussetzen, ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts, und hat sich zusammen mit den Nationalstaaten herausgebildet. Wir haben es bei der EU aber mit einem nachnationalen Projekt zu tun. Dass der nationalstaatliche Demokratiebegriff einem nachnationalen Gebilde nicht passen kann wie ein Handschuh der Hand, ist eigentlich logisch. Vielleicht sollten wir also nicht nur die demokratischen Defizite der EU kritisieren, sondern zuerst einmal unseren Demokratiebegriff. Das ist für mich die neue, die eigentliche Frage: brauchen wir für das nachnationale Projekt nicht einen neuen Demokratiebegriff?

Wir sehen also alle nur das Demokratiedefizit aus nationaler Sicht?

Menasse: Ja. Ich habe deshalb selbst auch gedacht, es darf doch nicht sein, dass auf einem Kontinent von demokratischen Nationalstaaten, wenn sie sich verbinden und gemeinsame Regeln und Gesetze beschließen, wichtige Entscheidungen von Institutionen getroffen werden, die demokratisch nicht legitimiert sind, während diejenigen, die demokratisch legitimiert sind – wie das Europaparlament – beschnittene Rechte haben. Aber ich habe in den vergangenen Wochen zu deutlich erleben müssen, dass das Hauptproblem der EU zunächst nicht darin liegt, dass das Europaparlament weit davon entfernt ist, dem Ideal des Parlamentarismus zu entsprechen. Das Problem liegt ganz simpel, ganz logisch, ganz trostlos im Widerspruch zwischen dem Anspruch auf rationale Europapolitik und den nationalen Sonderinteressen. Europapolitik entwickelt der Beamtenapparat der Kommission. Dieser hat keine demokratische Legitimation. Aber hier arbeiten Menschen, die keinen nationalen Gelüsten verpflichtet sind. Sie sind polyglott, gebildet, aufgeklärt, hoch qualifiziert. Sie sind Teil eines Apparats, der eine fixe Idee hat: die Herstellung von Rationalität. Diesen europäischen Josephinismus kann man infrage stellen, er ist zunächst erstaunlich, bewundernswert.

Das Parlament hat nicht den Anspruch auf europäische Rationalität?

Menasse: Doch. Aber das Parlament hat durch die Art und Weise, wie es gewählt wird, große immanente Probleme: zum Beispiel, weil die Parteien der Mitgliedstaaten nicht ihre besten Frauen und Männer für die Europawahlen aufstellen, sondern die Wahlen als Gelegenheit nutzen, abgehalfterte Ex-Minister und farblose Polit-Funktionäre angemessen zu entsorgen. Die Grünen sind da eine rühmliche Ausnahme. Jedenfalls bedeutet demokratische Legitimation hier nicht automatisch größere politische Rationalität. Ebenso der Rat, die Versammlung der Regierungschefs: Sie sind demokratisch legitimiert, aber nur in ihrem Nationalstaat. Und sie werden nicht als Europapolitiker wieder gewählt, sondern nur, wenn sie zeigen können, was sie zur Verteidigung nationaler Interessen in der EU gegen die EU durchgesetzt haben. Das Hauptproblem liegt also nicht in der ungenügenden demokratischen Legitimation, mit der die EU-Entscheidungen zustande kommen, sondern darin, dass die demokratische Legitimation, so weit sie existiert, keine europäisch rationale ist und umgekehrt die europäische Rationalität, dort, wo sie formuliert wird, nicht demokratisch legitimiert ist.

Sie kritisieren also nicht mehr die demokratiepolitischen Defizite in der europäischen Konstruktion, sondern die europapolitischen Defizite in den demokratisch legitimierten Instanzen? Sehe ich das richtig?

Menasse: Das ist der Widerspruch, mit dem wir fertig werden müssen. Der Graben besteht nicht zwischen bösen, abgehobenen Beamten und auf der anderen Seite aufrechten Demokraten. Der Graben verläuft zwischen den Institutionen, die das europäische Projekt und die Nation als Widerspruch austragen. In der Kommission arbeiten Europäer, und im Rat, der Versammlung der Regierungschefs, wird die Rationalität des Apparats zurückgedrängt, um daheim eine kurzfristige demokratische Legitimation zu erhalten: Die Regierungschefs werden in ihren Staaten nur wiedergewählt, wenn sie vorführen können, was sie gegen die EU und für die Nation herausgerissen haben.

Dann ist es ja nicht allein ein Konstruktionsfehler der Union, sondern die mangelnde Bereitschaft, mit diesem Instrument demokratisch umzugehen – und zwar schon auf nationaler Ebene.

Menasse: Es ist eine vorläufige Konstruktionsnotwendigkeit. Solange die Union aus 27 Nationalstaaten besteht, muss jedes Land seine Stimme haben. Aber die nationalstaatlichen Gelüste sind letztlich das Störfeuer in einem eigentlich vernunftgesteuerten Prozess, der von der Kommission angeschoben wird. Dort sitzen nicht die Neoliberalen. Die Beamten dort arbeiten soziale, vernünftige Konzepte aus. Der neoliberale Einfluss kommt über die nationalstaatlichen Interessen herein. Die Regierungschefs, angetrieben von den neoliberalen Interessen ihrer nationalen Wirtschaft und der nationalen Medien stutzen soziale Interessen auf europäischer Ebene zurück. Alle sagen, die haben die demokratische Legitimation, weil das sind die gewählten Regierungschefs. Ich sage jetzt aber: Sie haben die Legitimation nicht. Im Grunde ist es Betrug. Denn kein Regierungschef wurde in den Rat gewählt. Niemand, der bei einer nationalen Wahl eine Partei wählt, denkt dabei die Frage mit, ob deren Spitzenkandidat der bestgeeignete Europapolitiker ist. Der demokratiepolitische Zwitter und das Problem ist also der Europäische Rat. Aber wenn, was unvermeidlich ist, die Nationalstaaten an Bedeutung verlieren, wird auch der Rat Macht einbüßen.

Sie sind für einen europäischen Superstaat?

Menasse: Superstaat – wie das klingt! Alle großen Gesellschaftsutopien der Geschichte sahen am Ende eine freie Assoziation frei sich organisierender und frei produzierender Regionen. Und das ist letztlich auch im Subsidiaritätsprinzip der Union verankert.

Aber dann wäre auch die Basis des derzeitigen Demokratiebegriffs zerstört: der österreichische Staat.

Menasse: Na und? Alle Nationalstaaten müssen absterben, wenn man ein demokratisches System von Checks und Balances auf europäischer Ebene haben will. Und wir dürfen doch bitte nicht so tun, als hätte es in Österreich vor dem EU-Beitritt eine idealtypisch verwirklichte Demokratie gegeben. Da gab es ja auch größte Defizite, zum Beispiel dadurch, dass es eine Nebenregierung gab, die niemand gewählt hat und die auch in der Verfassung nicht vorgesehen war: die Sozialpartnerschaft. Aber das waren alle irgendwie gewohnt.

Dann müssten die Österreicher ja Europa wegen seiner permanenten Kompromisssuche lieben?

Menasse: Es ist tatsächlich eigenartig: Österreich hatte eine turbulente Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert, von der Monarchie über die Erste Republik in den Ständestaat, das Aufgehen im NS-Staat und schließlich Zweite Republik, und innerhalb der Zweiten Republik vom dreckigen zum unsauberen Umgang mit der eigenen Geschichte. Aber zwei Dinge schienen schließlich eingeübt und unverbrüchlich: die Liebe zum Kompromiss, von dem keiner wusste, wie er wirklich zustande kam, weil er nicht im Parlament, sondern hinter Polstertüren ausgehandelt wurde, und zweitens der Respekt vor dem Beamten, das Vertrauen in das Ethos des Beamtenapparats, der über alle Systembrüche hinweg immer irgendwie funktioniert hat. So gesehen erscheint die EU eigentlich als ein Supra-Österreich.

Und just in dem Moment, in dem ganz Europa österreichisch wird, beginnen die Österreicher die EU immer stärker infrage zu stellen und abzulehnen. Absurd, oder? Man könnte sagen, es zeigt sich hier wieder der österreichische Selbsthass. Doch die sinnvollere Theorie ist eine andere. Es zeigt sich hier auch bei uns ein globaler Sachverhalt: Es schwindet aus einer Reihe bekannter Gründe auch in Österreich das Vertrauen, dass das Gewohnte noch funktionieren kann.

Und das ist der Grund für den Hass auf die EU?

Menasse: Hass ist ein großes Wort. Das österreichische Ressentiment ist eine primitive, fehlgeleitete Notwehr. Es gibt Verbrechen, und ich meine damit nicht die Handtaschlzieher. Es gibt den Raub von Milliarden, die über Finanztransaktionen von Wirtschafts-, oder noch grasser: von Politabenteurern abgesaugt wurden, sodass wir nun alle dafür zahlen müssen. Der primitive Reflex ist da die Suche nach Sündenböcken. Die Tatsache, dass die ÖVP 30 Jahre lang jegliche Bildungsreform verhindert hat, hat dazu geführt, dass kaum gebildeter Nachwuchs auch für die Politik produziert wurde. Alle, die in den letzten zehn, fünfzehn Jahren Politiker wurden, sind bereits selbst Opfer der ÖVP-Bildungspolitik. Die können keine Zusammenhänge erkennen, können nicht lesen, ausgenommen die Medien, denen sie noch die Inhalte diktieren können. Gäbe es jetzt die Aufbruchstimmung der Kreisky-Ära, würde sich ganz Österreich in der EU wiedererkennen. Aber weil Krise ist, funktionaler Analphabetismus herrscht und das Elend ausbricht...

Das Elend bricht doch nicht aus.

Menasse: Das Bildungselend ist ausgebrochen. Schon deshalb müssen wir den alten Demokratiebegriff, der den gebildeten Citoyen voraussetzt, infrage stellen. Und es ist zugleich ein Faktum, dass eine absolute Mehrheit der Menschen, die ja den Reichtum produziert, um ihren annähernd gerechten Anteil an diesem Reichtum betrogen wird. Das produziert Ressentiments, Wut, aber auch Angst und Unsicherheit. Es gibt nicht einmal mehr den Anschein von Verteilungsgerechtigkeit. Das ist eine Lunte, von der wir nicht wissen, wie lang sie ist, bis sie das Pulverfass erreicht. Das Eingeübte funktioniert nicht mehr. Das Alte ist daher jetzt schlecht. Und das Problem der EU ist eben auch, dass sie auf etwas begründet ist, das alt erscheint: nämlich auf Kompromiss und Beamtenethos. Aber die EU-Kompromisse erscheinen fremder als die Kompromisse, mit denen man früher gelebt hat, und die EU-Beamten sind unzugänglicher als die heimischen Beamten, bei denen zumindest der Schwager des Onkels eines Arbeitskollegen etwas richten konnte.
Robert Menasse über das Leben im Literaturbetrieb Spectrum

AUF EINEN BLICK

Robert Menasse recherchierte für seinen neuen Roman fünf Wochen lang in Brüssel. Er bekam dabei Einblick in die EU-Institutionen, besuchte einen EU-Gipfel und sprach mit EU-Beamten. Der österreichische Schriftsteller wurde von der flämischen Stiftung „Het beschrijf“ eingeladen. Menasse war zuletzt öffentlich der Umsetzung des Lissabon-Vertrags entgegengetreten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.04.2010)

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