Schengen-Land: Machtkampf um Europas Grenzen

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Arabische Revolten, versagender Grenzschutz und die Angst vor der nächsten Wahl sorgen für den bisher schwersten Streit über die Wiedereinführung von Grenzkontrollen in der EU.

Wenn man nicht mehr weiterweiß, gründet man einen Arbeitskreis: Europas Innenminister wollten am Donnerstag in Brüssel die Zukunft der Reisefreiheit in der EU diskutieren, doch als einziges nennenswertes Ergebnis konnten sie nach mehrstündigen Verhandlungen einen „Lenkungsausschuss“ vorzeigen. Experten der 27 Innenministerien sollen da drinsitzen und prüfen, inwiefern man die Regeln des Schengener Grenzkodex ein bisschen flexibler anwenden könne als bisher.

Dieses EU-Gesetz, das die Grenzkontrollen in der Union regelt, aber tatsächlich inhaltlich zu novellieren, darauf konnten sich die Minister nicht einigen. „Ich glaube, dass das ein längerer Prozess ist“, sagte Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) nach ihrem ersten EU-Ministerratstreffen. „Eine ganz klare Entscheidung ist etwas bei mir nur, wenn eine ganz klare Abstimmung gefällt worden ist.“ Viel Zeit bleibt dafür nicht. Schon am 9. Juni treffen sich die Innenminister wieder in Brüssel, und dann wollen sie laut übereinstimmenden Willensbekundungen Nägel mit Köpfen machen.

Eines aber ist klar: Um Europas Grenzen tobt ein Machtkampf. Und zwar nicht mehr nur um die Außengrenzen des reichsten politischen Bündnisses der Welt, dessen Wohlstand eine ungebrochene Anziehungskraft auf die Armen aus Afrika, Asien und Südamerika ausübt.

Vielmehr streiten die Europäer nun untereinander über die gegenseitige Kontrolle ihrer Grenzen: erstmals, seit sie vor 26 Jahren im kleinen luxemburgischen Ort Schengen damit begonnen haben, die Grenzbalken zu zersägen.

Die Regierungen trauen einander nicht mehr über den Weg. Und darum schicken sich einige Staaten an, die Reisefreiheit ihrer Bürger wieder zu beschränken. Etwas also, was auch die gewiss nicht des Gutmenschentums verdächtige Ministerin Mikl-Leitner am Donnerstag als „wichtig und heilig“ bezeichnete.

Drei Gründe für Europas Zerwürfnis

Es gibt drei Gründe für dieses Zerwürfnis. Erstens einen aktuellen, weltpolitischen: Die Revolutionswelle in Nordafrika hat die dortigen Grenzschutzbehörden hinweggefegt. Zehntausende Tunesier haben die Chance beim Schopf gepackt und sind per Boot auf die italienische Insel Lampedusa gefahren. Es sind fast durchwegs junge Männer zwischen 16 und 35 Jahren, die letztlich in Frankreich arbeiten wollen. Italien hat ihnen Papiere ausgestellt, ob man nur mit diesen innerhalb des Schengen-Raums reisen darf oder nicht, ist eine rein akademische Frage, denn am italienisch-französischen Grenzübergang Ventimiglia ging es wochenlang hoch her.

Der libysche Diktator Muammar al-Gaddafi wiederum macht nun seine Drohung war, Flüchtlinge gleichsam als Waffe gegen die Europäer zu verwenden. Immer mehr Boote fahren von Libyens Küsten los, oft unter vorgehaltenen Waffen der Soldaten des Gaddafi-Regimes.

Der zweite Grund ist ein chronischer, und er betrifft das Versagen von Ländern wie Griechenland, ihre Außengrenzen zu schützen. Über einen wenige Kilometer langen Streifen entlang der türkisch-griechischen Grenze kommen trotz millionenschwerer Hilfen und zweier Missionen von mehr als 100 Grenzschutzexperten der anderen EU-Staaten weiterhin massenhaft irreguläre Flüchtlinge. Aber auch Italien muss sich scharfe Kritik für seine Unfähigkeit anhören, die Küsten zu kontrollieren und ein funktionierendes Asylwesen zu organisieren. „Italien muss seine Hausaufgaben machen“, sagte Mikl-Leitner und verwies auf die Asylstatistik: Pro tausend Menschen in Österreich gab es im Jahr 2010 durchschnittlich 1,3 Asylwerber. In Italien waren es nur 0,1 Asylwerber pro tausend Einwohner.

Der dritte Grund leitet sich aus den ersten beiden ab und ist rein innenpolitischer Natur. Immer mehr europäische Regierungen sehen sich Bürgern gegenüber, die mit der EU und dem Gedanken der Solidarität, des Suchens gemeinsamer Lösungen für gemeinsame Probleme, nichts mehr anfangen können. Diese Euroskepsis wird dadurch verstärkt, dass die Regierungen beim größten Problem, das alle Europäer betrifft, bisher versagt haben: der Eindämmung der Schuldenkrise, die zu einer Krise des Euro geworden ist.

Und so schalten die Regierungen mit nervösem Blick auf ihre jeweils nächsten Wahlen in Sachen Grenzschutz auf hart. „Alle bekennen sich zu Schengen“, sagte Mikl-Leitner – und betonte zeitgleich die „Notwendigkeit der Abschiebung im Sinn der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger und ihres Vertrauens“.

Die Angst vor dem EU-Wutbürger

Und damit ist auch erklärt, wieso keiner der Innenminister am Donnerstag ihren dänischen Amtskollegen dafür gemaßregelt hat, die Zollkontrollen an den Grenzen zu Schweden und Deutschland zu verschärfen. „Keine Diskussion, keine Fragen“ habe es gegeben, sagte die EU-Kommissarin für Inneres, Cecilia Malmström, eine schwedische Liberale. „Der dänische Kollege hat garantiert, dass das mit dem Schengen-Kodex im Einklang geschieht“, assistierte ihr Ungarns Innenminister Sándor Pintér. Und Mikl-Leitner beantwortete die Frage, wie denn die Dänen diese Maßnahme gerechtfertigt hätten, in erfrischend undiplomatischer Weise so: „Sie haben das mit den anstehenden Parlamentswahlen begründet.“
Leitartikel von Wolfgang Böhm Seite 2
Dänemark: Erpressung von Rechts Seite 2

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.05.2011)

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