Ökonom Flassbeck: "Deutschland muss Defizite machen"

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Ökonom Heiner Flassbeck fordert im Interview mit der "Presse" mehr Solidarität der Überschussländer mit den Defizitländern der Eurozone. Die EZB solle nicht länger "Kasino-Aktivitäten" der Banken finanzieren.

Die Presse: Deutschland ist der Dreh- und Angelpunkt in der Euro-Diskussion. Sie sagen, Deutschland trage ebenso Mitschuld an der Eurokrise wie Griechenland oder Spanien.

Heiner Flassbeck: Deutschland hat seine europäischen Handelspartner an die Wand konkurriert. Die Reallöhne sind in Deutschland seit vielen Jahren nicht mehr gestiegen, und die Binnennachfrage ist fast genauso flach wie die Löhne. Die Leistungsbilanz-Überschussländer Deutschland oder Österreich müssen den Defizitländern Luft zum Atmen lassen.

Aber kann man Österreichern oder Deutschen einfach verordnen: „Jetzt lehnt euch mal ein wenig zurück, macht Dauerurlaub oder kommt später in die Fabrik und ins Büro und gebt den Griechen auch einmal eine Chance.“ Brauchen wir nicht eine hohe Produktivität, um unseren Wohlstand zu sichern?

Jeder soll sich an seine Produktivität anpassen. Wenn in Österreich plötzlich die Produktivität nicht mehr um zwei, sondern um fünf Prozent steigt, dann können auch die Löhne dementsprechend stärker steigen. Wir brauchen nun eine Therapie der Ursachen, nicht nur der Symptome: Nun müssen sich Griechen und Portugiesen bei Lohnerhöhungen zurückhalten, und die Deutschen und Österreicher legen zu. Einzige Alternative: eine EU-Transferunion. Das wäre ähnlich wie die Transfers nach Ostdeutschland, die immer noch jedes Jahr rund 80 Milliarden Euro ausmachen. Aber bei EU-Transfers ginge es jährlich um rund 500 Milliarden, die der Norden an den Süden überweisen müsste.

Ist das nicht völlig unrealistisch?

Im Moment ja. Die Gewerkschaft IG-Metall lässt etwa verlauten, dass man von Lohnerhöhungen wenig hält, die Arbeitsplatzsicherheit gehe vor. Aber ich halte das für grundfalsch: Es gibt eine Produktivitätslücke zwischen Deutschland und Südeuropa. Für die Ungleichgewichte tragen auch die Gläubigerstaaten Verantwortung. Wenn die Defizitländer heute ihre Schulden bezahlen sollen, müssen sie längerfristig Überschüsse machen. Damit diese aber Überschüsse machen können, müssen die Überschussländer von heute Defizite machen.

Zum Bankensystem: Das Argument für die Bankenrettung nach der Lehman-Pleite war: Die großen Banken sind systemrelevant für die gesamte Wirtschaft, sie sind „too big to fail“, also dürfen sie nicht untergehen.

Aber es gibt auch keinen Grund dafür, das Überleben von Kasinos zu finanzieren. Also müssen die Banken in einen Kommerzbankenbereich und Investmentbanken getrennt werden. Eine Bank kann bei der Europäischen Zentralbank um einen Prozentpunkt Geld aufnehmen und damit dann auf den Märkten spekulieren. Geld von den Zentralbanken zu bekommen ist doch ein unglaubliches Privileg. Wodurch ist das gerechtfertigt? Dieses Zentralbankengeld könnte man viel vernünftiger einsetzen.

Und wie Ihrer Meinung nach?

Wenn etwa der Staat mit Geld von den Zentralbanken die Infrastruktur verbessert, dann wäre das in der derzeitigen Situation überhaupt kein Problem, das würde auch die Inflation nicht anheizen. Denn in den vergangenen Jahren hat die Zentralbank die Casino-Aktivitäten der Banken finanziert und das ist ja wohl das Unsinnigste, was man mit dem Geld der Zentralbanken machen kann.

Also Geld drucken und noch mehr Schulden machen?

Es ist doch so: Wenn wir nicht in der Lage sind, die Probleme zu lösen, dann muss der Staat mithilfe von neuen Schulden eingreifen. Wir müssen aus dieser Stagnation heraus. Wenn wir das nicht machen, dann führt das übrigens ebenso zu höheren Schulden, weil dann das System kollabiert.

Wie viele Schulden hält ein Staat Ihrer Meinung nach aus?

Wir dürfen die Schuldner nicht am laufenden Einkommen messen. Die Frage ist: Wie hoch ist das staatliche, das gesellschaftliche Vermögen? Daran kann man ermessen, welchen Schuldenstand so eine Volkswirtschaft aushält. In Europa liegt die Grenze wahrscheinlich bei 600 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Aber das Ziel eines linken Ökonomen wie Ihnen kann doch nicht Umverteilung von Geldern der Steuerzahler zu den wohlhabenden Besitzern von Staatsanleihen sein?

Gleichzeitig können wir aber auch nicht in einer Situation wie dieser, mit unendlich fragilen Finanzmärkten, einfach einen Schuldenschnitt machen. Das Ergebnis wäre doch ganz klar ein Flächenbrand.

Auf einen Blick

Heiner Flassbeck ist ein deutscher Ökonom. Er war von 1998 bis 1999 beamteter Staatssekretär im Bundesministerium für Finanzen und Berater des damaligen Finanzministers Oskar Lafontaine. Seit Jänner 2003 ist der 61-jährige Chefvolkswirt bei der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung in Genf. Flassbeck gilt als einer der einflussreichsten Ökonomen in Europa. Zuletzt veröffentlichte er das Buch „Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert“. Die Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik ernannte ihn zum Honorarprofessor.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.01.2012)

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