Ungarn im Grabenkampf der Parteipolitik

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Vertragsverletzungsverfahren. Die Regierung in Budapest hat auf Brüssels Bedenken zur Staatsreform reagiert. Nun prüft die Kommission. Inzwischen weiden Europas Parteien den Zwist genüsslich für ihre Zwecke aus.

Brüssel. Mehr als 100 Seiten juristischer Ausführungen in ungarischer Sprache landeten am Freitagnachmittag im Posteingang der Europäischen Kommission. Die Überzeugungskraft dieses Schreibens der ungarischen Regierung wird den Ausschlag dafür geben, ob sich der Streit zwischen Brüssel und Budapest um die Unabhängigkeit von Notenbank, Richtern und Datenschutzbeauftragten gütlich beilegen lässt oder ob er vor dem Gerichtshof der EU landet.

Nun wird die Kommission das Schreiben übersetzen, rechtlich prüfen und politisch abwägen. Vor allem Letzteres ist heikel. Was ist zum Beispiel von dem Versprechen zu halten, dass die einfachgesetzlich festgelegte Unabhängigkeit der Bank tatsächlich nicht geändert wird? Und ist die Unabhängigkeit der Richter ab dem 62. Lebensjahr tatsächlich gewährleistet, wenn Budapest erklärt, man werde im Einzelfall prüfen, ob diese Richter trotz Erreichen des neuen Pensionsalters (bisher lag es bei 70) im Amt bleiben dürfen?

Linker Volltreffer in Straßburg

Doch längst ist der Brennpunkt des Streits um die ungarischen Staatsreformen der letzten eineinhalb Jahre von der Kommission mit ihrem Vertragsverletzungsverfahren und klaren Grenzen der Zuständigkeit in die Arena der europäischen Parteipolitik gewandert.

Und dort nutzen beide großen politischen Lager das ungarische Dossier weidlich zum Zweck der Selbstprofilierung aus. Am Donnerstag erzielte im Europäischen Parlament in Straßburg eine Mehrheit links der Mitte einen satten Treffer („Die Presse“ berichtete). Sozialdemokraten, Liberale, Grüne und Linke brachten ihren Entschließungsantrag durch, mit dem erstmals ein Verfahren eingeleitet wird, das mit der amtlichen EU-Feststellung der schwerwiegenden Verletzung von Menschen- und Grundrechten enden würde.

Zwar ist es kaum denkbar, dass vier Fünftel der Regierungen der EU-Staaten so einen Beschluss fassen. 17 der 27 Staats- und Regierungschefs gehören der Europäischen Volkspartei an, und deren Vizepräsident ist Ungarns Regierungschef Viktor Orbán. Doch ab nun können Europas Regierungen die heikle Frage nicht mehr von sich wegschieben, ob die Staatsreformen, von Orbáns Partei Fidesz im Alleingang beschlossen und mit Zwei-Drittel-Mehrheit legitimiert, europäische Grundwerte verletzten oder nicht. Sie müssen das nach der Vorlage des Europaparlaments zumindest einmal erörtern. Es wird interessant zu beobachten sein, wie sich dann sozialdemokratische Regierungschefs wie Werner Faymann oder die dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt, deren Land den rotierenden EU-Vorsitz innehat, positionieren werden.

Fortschrittlich oder autoritär?

Im Europaparlament zumindest haben sich die Sozialdemokraten auf Orbán eingeschossen. So freute sich ihr Fraktionschef Hannes Swoboda über die „fortschrittliche“ Entschließung und forderte Orbán auf, „konkrete Gesetzesvorschläge vorzulegen, um die Situation seiner Landsleute zu verbessern“. Die Volkspartei hingegen leckte ihre Wunden und nannte die Entschließung „autoritär“.

Und mittendrin suchen einzelne Politiker, in die Schlagzeilen zu kommen. Kaum ein Tag vergeht, an dem der Sprecher von EU-Kommissarin Neelie Kroes kein E-Mail an die Brüssel-Korrespondenten verschickt, in der er die jeweils neuesten Twitter-Ansagen seiner Chefin zur ungarischen Medienpolitik bewirbt. Die grüne Ulrike Lunacek wiederum ließ sich extra eine ungarische TV-Talkshow übersetzen, um ganz genau zu verstehen, auf welche unflätige Weise sie dort in absentia von einem Fidesz-Sympathisanten beschimpft wurde. Swoboda nahm das zum Anlass, um die Volkspartei zu rügen, was dann sogar Othmar Karas, den gutmütigen ÖVP-Vizepräsidenten des Europaparlaments, zur Weißglut gebracht haben soll.

Die Kommission prüft derweil den Brief aus Budapest. Sie werde ihn „dringlich“ behandeln, ließ sie am Freitag wissen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.02.2012)

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