Die EU als Erziehungsdiktatur: Schüler Orbán ist zu aufmüpfig

Ungarn unter Verdacht. Der Premier wehrt sich gegen die Behandlung seines Landes und wirft westlichen Politikern vor, das „wahre Europa“ zu verraten.

Seit Ungarn im Mai 2010 mit Zweidrittelmehrheit eine Mitte-rechts-Regierung gewählt hat, führt die EU eine anhaltende Kampagne gegen das eigene Mitgliedsland, der sich inzwischen auch die USA angeschlossen haben. Dass sich Ministerpräsident Viktor Orbán scharfzüngig und ohne Unterwürfigkeit gegen die Demokratie-Oberlehrer aus Brüssel wehrt, wird ihm als besonderer Ungehorsam ausgelegt, der mit immer neuen Strafen geahndet werden muss.

Am liebsten hätte die EU ja sofort Sanktionen gegen Ungarn verhängt. Eingedenk der Erfahrungen mit den Sanktionen gegen Österreich im Jahr 2000 traute sie sich das aber doch nicht. Tatsächlich drohte der Haupttreiber gegen Ungarn, der jetzige Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, mit dem ominösen Artikel7 des EU-Vertrages, nach dem ein Land mit Sanktionen bis zum Entzug des Stimmrechts in den EU-Gremien belegt werden kann, wenn es „gegen demokratische Grundsätze verstößt“.

„Faschistische“ Umtriebe?

Das schlimmste Urteil, das die westliche öffentliche Meinung zu sprechen hat, ist bekanntlich der Faschismusverdacht. Eine Demonstration gegen die Bestellung eines Theaterdirektors in Budapest wurde in einer österreichischen Bundesländerzeitung gleich zur „antifaschistischen Kundgebung“ geadelt. „Faschistoid“ fand ein Kommentator in Wien die ungarische Verfassung, die am 1.Jänner in Kraft getreten ist.

Einen Beweis für diese Behauptung blieb er schuldig, aber solche Vokabel müssen nicht bewiesen werden, ihre bloße Verwendung reicht schon. Wenn die ungarische Regierung zum Nationalfeiertag in dieser Woche vermutlich hunderttausende Menschen auf die Beine bringt, wird ihr das wohl auch wieder als „faschistischer Massenaufmarsch“ angelastet werden.

Was waren die demokratischen Grundsätze, gegen die Ungarn verstoßen hat? Orbán und seine Regierung wurden verdächtigt, mit einem neuen Mediengesetz die Medien gängeln und unter die Kontrolle der Regierung bringen zu wollen. Tatsächlich hat Ungarn nur eine höchst dringende Regulierung seiner seit der Wende (auch durch Mitschuld ausländischer Medienkonzerne) völlig aus dem Ruder gelaufenen Medienlandschaft nach dem Vorbild westlicher Gebräuche unternommen.

Korrekturen, die die EU angeregt hat, sind unterdessen am Gesetz angebracht worden, nachdem auch der eigene Verfassungsgerichtshof diese verlangt hat.

Einer der Vorwürfe der EU lautet, die neue ungarische Verfassung achte die Gewaltentrennung nicht. Dabei geniert sich die EU-Kommission nicht, den grotesken Vorwurf zu erheben, die Unabhängigkeit der Zentralbank sei nicht gewährleistet, weil man ihrem Chef das Gehalt gekürzt habe. Spricht der Schelm hier so, wie er denkt? Dass die Unabhängigkeit eines Funktionärs von der Höhe seiner Bezahlung abhängt?

Die Regierung in Budapest antwortete Brüssel, dass sie bei allgemeinen Gehaltskürzungen angesichts der Krise auch bei den Bediensteten der Notenbank nicht haltmachen könne. Österreichischen Nationalbankbeamten kann so etwas freilich nicht passieren.

Völlig unverhältnismäßig ist die Sperrung von Mitteln aus dem europäischen Kohäsionsfonds wegen des hohen ungarischen Staatsdefizits. Ungarn ist das erste Land, gegen das dieses Instrument angewendet wird. Ungarn werden sage und schreibe 495Millionen Euro vorenthalten, zur selben Zeit schüttet dieselbe EU erneut 140 Milliarden Euro, also das 280-Fache, ins bodenlose Fass Griechenland. Wie eine Regierung, die von ihrer Vorgängerin völlig zerrüttete Finanzen geerbt hat, innerhalb von zwei Jahren ein ausgeglichenes Budget schaffen soll, sagt die Kommission nicht.

Streng und unerbittlich

Ungarn wird mit einer Strenge und Unerbittlichkeit behandelt, die die EU bei anderen – alten wie neuen – Mitgliedern nicht anwendet. Das legt den Verdacht nahe, dass ein Exempel statuiert werden soll, die Sorge um Demokratie und europäische Werte nur vorgeschützt ist.

Was sind die Ursachen für die anhaltende Maßregelung Ungarns? Es hat eine falsche Regierung gewählt. Da die Fidesz-Partei von Orbán eine Zweidrittelmehrheit im Parlament hat, braucht sie zur Regierung nicht die Unterstützung der Rechtsradikalen. Das ist für westliche Kritiker ärgerlich, denn es nimmt ihnen das Argument, man müsse auch in Ungarn gegen das Vordringen des Rechtsextremismus kämpfen, was ja der Vorwand für die Sanktionen gegen Österreich gewesen ist.

Wie ein Land heutzutage überhaupt noch dazu kommt, eine Partei mit einer Zweidrittelmehrheit zu wählen, hat ausgerechnet Paul Lendvai, ein scharfer Kritiker von Orbán und seiner Partei, in unübertrefflicher Eindeutigkeit erklärt: „In den Jahren zwischen 2002 und 2010 bot das sozialistisch-liberale Lager ein jämmerliches, ja zuweilen ekelerregendes Bild von Filz, Vetternwirtschaft und politischer Verkommenheit.“

Die drei letzten sozialistischen Ministerpräsidenten gehörten zu den reichsten Männern des Landes. Wundert sich angesichts dieses vernichtenden Urteils noch jemand, dass die Ungarn eine Regierung haben wollten, die eine geistig-politische, moralische Wende verspricht?

Eigenartige Vorwürfe

Das ist auch der eigentliche Grund für die westliche Erregung und Feindseligkeit gegenüber einem EU-Mitglied. Orbán wird vorgeworfen, er sei „nationalpatriotisch“. Das ist ein eigenartiger Vorwurf in einer Gemeinschaft von souveränen Staaten mit je eigener Identität und Sprache sowie den dazugehörigen Symbolen. Gegen Frankreich, wo eine solche Haltung gerade auch unter der Linken selbstverständlich ist, hat das noch nie jemand ins Treffen geführt.

Orbán, den ein witziger österreichischer Kommentator einen „Puszta-Napoleon“ nannte, ist weder im Handeln noch im Reden sehr zimperlich. Zu Recht hat man ihm vorgeworfen, die Umrechnung von Fremdwährungskonten zugunsten ungarischer Sparer sei eine faktische Enteignung westlicher, vor allem österreichischer Banken gewesen.

Die Kritik daran ist allerdings verstummt angesichts der Massenenteignung westlicher Sparer und Anleger im Zuge der Eurorettung. Keine Freunde macht sich Orbán auch, wenn er ganz offen davon redet, dass er lieber selbst die ungarische Linke zerstört hätte, aber leider habe sie vorher Selbstmord begangen.

Was Viktor Orbán aber für westliche Ohren so unangenehm macht, ist ein Selbstbewusstsein, das man bei einem östlichen Mitglied nicht erwartet.

Orbáns „verborgenes Europa“

Orbán fragt nach der demokratischen Legitimation der EU-Kommission und, mit welchem Recht sie sein Land so unfair behandelt. Er beruft sich auf die „westlichen Werte“, definiert sie aber anders, als es im westlichen Mainstream liegt. Den europäischen Spitzenpolitikern wirft er vor, sie hätten den Glauben an das verloren, was Europa groß gemacht hat, nämlich die christliche Zivilisation. Aber es gebe auch ein „verborgenes Europa“, in dem das noch wach sei. Dafür muss er bestraft werden, der vorlaute Schüler.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.03.2012)

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