Der lange Nachhall der 60er-Jahre

Sozialforscher Rainer Münz: Folgeprobleme, weil Österreich vor allem gering qualifizierte Männer anwarb.

WIEN. Warum sind speziell türkische Familien oft schlecht integriert? Für den Sozialforscher Rainer Münz hat das weniger mit Herkunftsland oder Kultur zu tun, sondern mit der Schicht, die man in den Sechzigerjahren nach Österreich holte: „Das waren billige Arbeitskräfte, in erster Linie kräftige Männer ohne Qualifikation. Hätten sie mehr Bildung gehabt, wären sie gar nicht nach Österreich gekommen. In anderen westeuropäischen Ländern verdiente man damals weit mehr.“ Diese Form der Anwerbung führe eben später zu Problemen, sagt Münz im Gespräch mit der „Presse“.

Gering qualifizierte Arbeiter seien klarerweise nicht mit Akademikerinnen verheiratet, gibt der Wissenschaftler zu bedenken. Für den Großteil ihrer Kinder war ein Aufstieg aus dieser Schicht kaum möglich. Viele sprachen daheim nur in ihrer Muttersprache, Hilfe beim Lernen war oft nicht möglich. Die Folge: eine höhere Zahl an Schulabbrechern, auf die wiederum der österreichische Arbeitsmarkt „nicht gewartet“ habe.

Arbeitsmarkt verbarrikadiert

Der Wissenschaftler gibt der heimischen Politik eine Mitverantwortung an mangelhafter Integration von Zuwanderern. Man lasse zwar Menschen aus unterschiedlichen Gründen zuwandern, gebe aber einem Teil von ihnen keinen Zugang zum Arbeitsmarkt bzw. erkenne ihre Qualifikationen nicht an, beklage dann aber später die mangelnde Integration. Außerdem sei das Schulwesen so gestaltet, dass die Mehrzahl der Kinder ohne elterliche Unterstützung nicht erfolgreich sein könne.

„Türken-spezifisch“ seien solche Probleme aber nicht: In der Türkei selbst gebe es neben der anatolischen auch eine moderne Gesellschaft. Das Land sei schon einmal von einer Ministerpräsidentin regiert worden, in Istanbul gebe es massenhaft westlich orientierte Frauen. Zuwanderer nach Österreich entstammten allerdings nur selten dieser Schicht, wie etwa Do & Co-Gründer Attila Dogudan.

Münz bemüht einen provokanten Vergleich: Würde man erwachsene Waldviertlerinnen nach London verpflanzen, würden sich etliche auch schwer tun, Englisch zu lernen, wären seltener berufstätig und würden sich in erster Linie daheim um ihre Kinder kümmern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2008)

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