Der stille Schrei in der Krise

Verzweifelter Mann
Verzweifelter Mannwww.BilderBox.com
  • Drucken

In den Niederlanden steigt die Selbstmordrate. Wegen der Wirtschaftskrise?

Vicenzo hatte eine kleine Pizzeria. Der 45-jährige gebürtige Italiener, verheiratet, Vater von zwei Kindern, nahm sich das Leben. Er sprang vor einen Zug. Er sah keinen Ausweg mehr. Er war hoch verschuldet. Er ist eines der vielen Opfer der Wirtschaftskrise. Ebenso wie Martijn. Auch er war in der Gastronomie tätig. Seine Bar lief nicht mehr. Die Schulden stiegen und stiegen. Auch Martijn nahm sich das Leben.

1854 Niederländer nahmen sich im vergangenen Jahr das Leben, gab das niederländische Büro für Statistik CBS bekannt. So viele wie schon seit 30 Jahren nicht mehr. In diesem Jahr werden es wahrscheinlich noch mehr sein. Viele scheiden aus dem Leben, weil ihre Existenz durch die Wirtschaftskrise vernichtet worden sei, weil sie ihren Job verloren haben, weil sie hoch verschuldet seien, weil sie ihren Lebensunterhalt nicht mehr finanzieren können, meinen Experten wie Ad Kerkhof. „Die Selbsttötungsrate in den Niederlanden ist im internationalen Vergleich relativ hoch“, stellt der Professor für Psychologie an der Freien Universität Amsterdam fest. „Es ist ähnlich wie 1984. In der damaligen Krise war die Selbsttötungsrate ebenfalls so hoch wie heute. Die Krise macht die Menschen depressiv. Ist man erst einmal depressiv, dann kann der folgende Schritt schnell folgen. Das kann die Selbsttötung sein“, meint der Psychologe.

Man könne das in vielen Ländern, nicht nur in den Niederlanden feststellen. Positive Ausnahmen seien Luxemburg und Finnland, wo sich trotz der Krise nicht mehr Menschen das Leben nehmen. Suizidforscher Kerkhof weist auch darauf hin, dass die Selbsttötungsrate bei Männern wesentlich höher als bei Frauen ist. „Die Zahl der Selbsttötungen ist vor allem bei Männern im Alter zwischen 40 und 65 Jahren sehr hoch.“

1305 Männer nahmen sich in den Niederlanden 2013 das Leben, 549 Frauen. Was sind die Gründe für diesen signifikanten Unterschied? „Frauen stehen mit beiden Beinen im Leben. Sie sind zwar öfter depressiv, aber wagen seltener den letzten Schritt. Frauen wollen über ihre Probleme reden. Männer greifen zur Flasche“, behauptet Kerkhof.

Lexikon der Selbstzerstörung. Auch der Haager Schriftsteller Richard Sluijs hat sich mit dem Phänomen der hohen Selbsttötungsrate in seinem Heimatland befasst. Er veröffentlichte vor Kurzem ein 712 Seiten dickes Buch mit dem Titel: ,,The Complete Lexicon of Crisis Related Suicides“. Das Lexikon der Selbsttötungen, die auf die Wirtschaftskrise zurückzuführen sind. Der Autor sammelte Todesanzeigen aus denen hervorgeht, dass jemand sich umgebracht hatte.

Er sprach auch mit Angehörigen von Menschen, die sich das Leben nahmen. Er untersuchte den Zeitraum vom Beginn der Wirtschaftskrise 2008, als die US-Bank Lehman Brothers pleiteging, bis heute. Auch er kommt zu dem Schluss, dass es die Wirtschaftskrise ist, die mehr Menschen in den Freitod treibt. Und „die Scham, die sie fühlen, dass sie kein Geld mehr haben, um überleben zu können.“ Die Scham sei einer der Hauptgründe dafür, dass Menschen den Tod suchten. „Die Scham, nicht mehr zur Gesellschaft dazuzugehören, treibt sie in den Abgrund“, fand der Autor Richard Sluijs bei seinem Studium der Selbsttötungsfälle heraus.

Auslöser für dieses Buch war der Bankrott der Bank Lehman Brothers im Oktober 2008. „Ich sah Demonstranten auf der Wall Street mit Transparenten, auf denen sie die Banker zum Selbstmord aufriefen.“ „Jump! You Fuckers“ („Springt! Ihr Idioten“) sei auf den Transparenten gestanden. „Die Demonstranten forderten die Banker auf, aus den Fenstern der New Yorker Wolkenkratzer zu springen, so wie das während des großen Börsencrashs 1929 passiert ist“, erinnert sich Sluijs mit Schaudern zurück.

Nur in Luxemburg und Finnland sank während der Krise die Selbstmordrate.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.12.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.